Stefan Gerlach

„Der EZB-Rat wird sich nicht über den Tisch ziehen lassen“

Der ehemalige Vize-Chef der irischen Zentralbank über den jüngsten Anstieg der Euro-Renditen, die Reaktion der EZB und das Risiko der „fiskalischen Dominanz“

„Der EZB-Rat wird sich nicht über den Tisch ziehen lassen“

Mark Schrörs.

Herr Gerlach, viele Euro-Notenbanker sind besorgt oder gar alarmiert wegen des jüngsten deutlichen Anstiegs der Euro-Anleiherenditen. Insgesamt sind die Finanzierungsbedingungen für die Euro-Wirtschaft im historischen Vergleich aber immer noch extrem günstig. Scheint da nicht manche Warnung überzogen?

Es ist gut, dass sich der EZB-Rat Gedanken macht und die Entwicklung genau beobachtet, aber bislang sehe ich wenig Grund zur Sorge. Die deutschen zehnjährigen Renditen liegen bei rund −0,3% und die italienischen Renditen bei knapp 0,8%. Die Geldpolitik ist also immer noch außergewöhnlich stimulierend. Mit Blick auf die Zukunft besteht natürlich das Risiko, dass steigende Renditen die Erholung im Euroraum dämpfen, und die EZB muss sich dieser Gefahr bewusst bleiben.

Was sollte die EZB aus Ihrer Sicht jetzt konkret tun?

Die EZB sollte deutlich machen, dass sie eine verfrühte Verschärfung der monetären Bedingungen nicht ak­zeptieren wird und dass sie über zahlreiche Instrumente verfügt, um eine solche zu verhindern, darunter schnellere und mehr Anleihekäufe und eine Yield Curve Control (YCC).

Also die Kontrolle der Zinsstrukturkurve mit einem Zielwert für die langfristige Rendite, wie es die Bank of Japan bereits seit einiger Zeit vormacht.

Diese Strategie hat den Vorteil, dass sie es der EZB erlauben würde, die Renditen zu kontrollieren, ohne unbedingt viele Anleihen zu kaufen. Das Problem ist natürlich, dass es nicht die eine zehnjährige Euro-Staatsanleihe gibt, deren Rendite die EZB kontrollieren könnte, sondern die EZB viele lange Renditen zu berücksichtigen hätte. Dadurch wäre es praktisch schwieriger, YCC in der Eurozone einzusetzen als in Japan.

Grund für den Renditeanstieg sind auch verbesserte Wachstumsaussichten und eine steigende Inflation sowie anziehende Inflationserwartungen. Sollte die EZB das nicht eher begrüßen, statt geldpolitisch dagegen vorzugehen?

Natürlich sollten verbesserte Wachstumsaussichten und Erwartungen einer Inflation näher an 2% von der EZB begrüßt werden. Das Problem ist, dass sich diese Erwartungen auf die wirtschaftlichen Bedingungen in drei bis vier Jahren oder noch weiter in der Zukunft beziehen können. Höhere Anleiherenditen jetzt ohne einen synchronen Anstieg des aktuellen Wachstums und der Inflation wären ein ernstes Problem. Das könnte die Erholung von der Rezession durchaus verzögern.

Der Anstieg der Euro-Renditen wird auch durch den Anstieg der US-Renditen beeinflusst. Ist es für die EZB überhaupt möglich, die Euro-Renditen vollständig vom US-Trend abzukoppeln?

Nein, komplett kann das nicht gelingen, und zwar aus dem einfachen Grund, dass mehr Wachstum und ein stärkerer Inflationsdruck in der US-Wirtschaft Auswirkungen auf die globalen wirtschaftlichen Bedingungen haben wird. Das wird daher letztlich über den Handel mit Waren und Dienstleistungen und über das Finanzsystem auf die Wirtschaft des Euroraums übertragen werden. Wichtig ist, dass die Anleger nicht davon ausgehen, dass sich die EZB genauso verhalten wird wie die Fed, selbst wenn die wirtschaftlichen Bedingungen ähnlich sein sollten. In diesem Sinne ist es wichtig, darauf zu achten, dass die Renditen im Euroraum und in den USA zumindest bestmöglich entkoppelt sind.

Die Inflation ist auch im Euroraum zu Jahresbeginn unerwartet stark angestiegen. Ist das tatsächlich nur ein temporäres Phänomen, wie die EZB argumentiert, oder könnte es nicht doch eine Trendumkehr sein in Richtung wieder dauerhaft mehr Inflation?

Meiner Meinung nach spiegelt dies weitgehend die Tatsache wider, dass die Inflation zwischen Januar und Mai vergangenen Jahres weltweit gesunken ist. Wenn diese Entwicklungen aus der Berechnung der jährlichen Inflation herausfallen, wird sich die Inflation mechanisch erholen. Natürlich könnte es sich trotzdem um eine grundsätzliche Trendumkehr handeln. Aber ich denke, es ist viel zu früh, um zu sagen, dass dies der Fall ist. Wenn die Inflation ab Juni weiter ansteigt, dann wird es Zeit, sich Sorgen zu machen.

Nicht zuletzt der ehemalige britische Notenbankchef Mervyn King hat jüngst gewarnt vor zu viel Gelassenheit der Notenbanker mit Blick auf die Inflation. Für wie groß halten Sie diese Gefahr?

Einige Kommentatoren und sogar Zentralbanker, vor allem in Deutschland, haben seit Beginn der globalen Finanzkrise im Jahr 2008 wiederholt argumentiert, dass Europa bald ein Rendezvous mit einer massiven Inflation haben wird. Einige haben sogar von einer Hyperinflation gesprochen. Diese Befürchtungen haben sich als völlig unzutreffend erwiesen. Natürlich gibt es ein Inflationsrisiko, aber ich glaube nicht, dass es jetzt besonders hoch ist. Die Zentralbanken müssen aber, wie immer, wachsam sein.

Eine andere Sorge der EZB ist der Euro-Wechselkurs. Ist der Euro aktuell zu stark für die weiter schwächelnde Euro-Wirtschaft?

Nein, das denke ich nicht. Die Eurozone hat in den vergangenen Jahren einen Handelsbilanzüberschuss er­zielt, was darauf hindeutet, dass es ihr nicht an Wettbewerbsfähigkeit mangelt.

Die EZB will im September die Ergebnisse ihrer Strategieüberprüfung vorlegen. Halten Sie ein klares, explizites symmetrisches Inflationsziel von 2% für angemessen? Und sollte die EZB wie die US-Notenbank Fed explizit ein durchschnittliches Ziel ansteuern, also über einen bestimmten Zeitraum, um Zielverfehlungen in einem Jahr in den folgenden Jahren auszugleichen?

Ein klares und symmetrisches 2-Prozent-Ziel ist längst überfällig. Ob das unbedingt die Form eines formalen Durchschnittsziels wie im Fall der Fed annehmen sollte, ist weniger eindeutig. Dazu müsste die EZB festlegen, wie lang der Zeitraum für das durchschnittliche Ziel sein soll, was nicht offensichtlich ist. Möglicherweise reicht ein symmetrisches Ziel aus, das es der Inflationsrate erlaubt, einige Jahre lang moderat über dem 2-Prozent-Ziel zu liegen.

In der Coronakrise arbeiten Fiskal- und Geldpolitik Hand in Hand und die staatlichen Schuldenberge sind fast durch die Bank enorm angewachsen. Bundesbankpräsident Jens Weidmann hält das Risiko einer „fiskalischen Dominanz“ daher derzeit für so groß wie selten. Teilen Sie diese Sorge?

Fiskalische Dominanz liegt vor, wenn die Zentralbank gezwungen ist, Staatsanleihen zu kaufen. Das ist bei der EZB derzeit nicht der Fall. Sie kauft Anleihen, weil die Wirtschaft im Euroraum schwach ist und weil ein Verzicht darauf die Deflationsrisiken erhöhen würde. Die Vorstellung, dass der EZB-Rat, der aus Europas glaubwürdigsten und erfahrensten Zentralbankern besteht, sich von den Regierungen über den Tisch ziehen lassen könnte, erscheint mir absurd.

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