Jürgen Pieper

„Der Wandel zur E-Mobilität hat an Schwung gewonnen“

Laut Jürgen Pieper, einem der renommiertesten deutschen Automobilanalysten, hat in der Coronakrise ein gewaltiger Boom der E-Mobilität begonnen. Aus Investorensicht sei VW dabei äußerst interessant.

„Der Wandel zur E-Mobilität hat an Schwung gewonnen“

Herr Pieper, wie ist der Einbruch der Auto-Neuzulassungen in Deutschland im Januar zu bewerten?

Zu einem kleineren Teil hat dabei sicher eine Rolle gespielt, dass die coronabedingte Senkung der Mehrwertsteuer zum neuen Jahr ausgelaufen ist. Der Steuereffekt hatte in Verbindung mit den Impfstoffhoffnungen zuvor schließlich zum starken Anstieg der Neuzulassungen im Dezember beigetragen. Dass sich die gesellschaftliche und wirtschaftliche Situation aber nicht so schnell normalisiert wie von vielen erhofft, hat die Kauflaune nun aber noch einmal empfindlich gedämpft.

Wird dies den internationalen Automarkt noch nachhaltig belasten?

Der Wiederanstieg der Infektionszahlen in China und die schleppend anlaufenden Impfkampagnen in Europa legen nahe, dass die Marktteilnehmer noch einige Rückschläge verkraften müssen. Ich bin aber optimistisch, dass ab April eine Erholung einsetzt. Das zweite Quartal ist eigentlich das wichtigste für die Autohersteller. Allerdings wird sich das zu erwartende schwache erste Quartal wohl nicht ganz aufholen lassen. Deshalb haben wir die Prognose für das weltweite Absatzwachstum im Gesamtjahr kürzlich von 10 auf 8% gesenkt.

In den vergangenen Monaten klagen Fahrzeughersteller über Lieferengpässe bei Halbleitern. Wie stark bremsen diese die Branche über die Coronakrise hinaus?

Dass die Chipnachfrage in der Pandemie kontinuierlich weiter steigen und von der Autoindustrie zusätzlicher Schub kommen würde, haben die Halbleiterhersteller in ihrer Planung nicht berücksichtigt. Insofern haben die Engpässe bei Chips zu großen Teilen mit der Krise zu tun, allerdings dürften Lieferschwierigkeiten bei Batterien noch zu einem prägenden Thema werden. Es ist ja häufiger zu hören, dass Batterien zurückgeschickt und nachgearbeitet werden müssen. Da dies durch die E-Mobilität mit einem stark wachsenden Bedarf zusammentrifft, drohen in den kommenden zwei bis drei Jahren einige Schwierigkeiten.

Wie beeinflusst die Coronakrise das Wachstumsthema E-Mobilität langfristig?

In Pandemiezeiten hat der Wandel zur E-Mobilität noch einmal spürbar an Schwung gewonnen. Dabei hatten zu Beginn der Krise durchaus viele Beobachter vermutet, dass die Fahrzeughersteller und auch die Autokäufer auf Bewährtes setzen und neue Technologien scheuen würden. Das Gegenteil ist jedoch eingetreten: Schon zwischen März und Juni 2020 machte die Entwicklung von E-Autos in Europa noch einmal einen Schritt nach vorn. In den kommenden Monaten dürften die Verbraucher trotz höherer Kosten und klarer Nachteile bei der Reichweite ein Signal pro Hybrid- und Elektroantriebe geben.

Welche Rolle spielt politische Unterstützung dabei?

Die EU hat den Druck Richtung Mobilitätswende mit ihrem Green Deal deutlich erhöht, in China geht der Trend ohnehin zu E-Antrieben – und in den USA hat die Wahl Joe Bidens zum Präsidenten bei den Herstellern für einen strategischen Schwenk gesorgt. Das spricht bis 2025 für jährliche Wachstumsraten des Segments von 30% in allen großen Weltmärkten, teilweise sogar mehr. Es hat also mitten in der Krise ein gewaltiger Boom begonnen, an dem jegliche Zweifel so gut wie ausgeräumt scheinen.

Was bedeutet das für die deutschen Hersteller, gerade bezüglich der Positionierung in Wachstumsmärkten wie China?

Bei der E-Mobilität konnten die deutschen Produzenten ihre über Jahre erarbeitete Führungsrolle in der Branche bislang nicht ausspielen, weil sie technologisch hinterherlaufen. Dementsprechend hatten sie bei ihren Elektromodellen mit großen Schwierigkeiten bei Produktion und Markteinführung zu kämpfen. In China müssen sich Volkswagen, BMW und Daimler in den kommenden Jahren auf einen verschärften Konkurrenzkampf einstellen. Schließlich mischen dort die bei Hybriden sehr starken japanischen und koreanischen Produzenten ebenso mit wie junge einheimische Anbieter. Dabei ist aber noch völlig offen, ob sich die teilweise sehr hoch bewerteten chinesischen Marken langfristig behaupten können. Das stärkste Argument für die deutschen Hersteller ist ihre Markenstärke, und zwar über alle Märkte hinweg und insbesondere im Premium-Segment. Zudem verfügen sie über sehr fähige Ingenieure und sind in der Lage, umfangreiche finanzielle Mittel zu mobilisieren. Deshalb dürften sie ihren Sonderstatus auch wiedererlangen – allerdings wohl eher in drei bis fünf Jahren als in einem oder zwei.

Welche deutschen Hersteller sind dabei besonders interessant?

VW war an der Börse im vergangenen Jahr lange Zeit ein Underperformer und hat fundamental drei enttäuschende Quartale hingelegt. Darauf folgte zwischen Oktober und Dezember aber eine enorm starke Geschäftsentwicklung, auch die Marke Audi hat im vierten Quartal nach vielen Jahren Durststrecke wohl die Wende geschafft. Zwar verlief der Start des Audi E-tron und des Volkswagen ID.3 holprig – inzwischen sind die Modelle aber am Markt, und der ID.4 wird in Kürze kommen. Dieser wird sich vermutlich als wichtiger erweisen als der Vorgänger. Die Strategie, die E-Mobilität im gesamten Konzern mit eigenen Plattformen voranzutreiben, halte ich für richtig. Schließlich ist nicht nur eine funktionierende Batterietechnik, sondern auch fortschrittliche Software für den Erfolg entscheidend.

Wird es bei der Software-Entwicklung im gesamten Sektor künftig dennoch mehr Kooperationen geben?

Wahrscheinlich werden es sich nur die fünf, sechs größten Hersteller leisten können, eigenständig und unter hohem Zeit- und Kostenaufwand entsprechende Lösungen zu entwickeln. Andere Autobauer werden vermutlich mit Tech-Riesen kooperieren. Das birgt natürlich auch Konfliktpotenzial zwischen Software-Anbietern und Autoherstellern, weil sich dabei niemand in die Nebenrolle abdrängen lassen will, wie bei der erwogenen Zusammenarbeit zwischen Hyundai/Kia und Apple zu sehen war. Für die Digitalkonzerne ergibt es aber eben auch keinen Sinn, auf sich gestellt in die Fahrzeugproduktion einzusteigen, weil dies ihren Return on Invested Capital stark verwässern würde. Wenn sich beide Kooperationspartner auf ihre Rollen einigen können, hat dies aber den Vorteil, dass die Strahlkraft ihrer Marken aufeinander abfärbt.

VW bietet bei seinen Elektromodellen eine große Bandbreite an Zusatzausstattung. Kunden von Tesla müssen weniger wählen, weil deren Basisversionen bereits aufgemotzter daherkommen. Müssen die deutschen Autobauer ihre Vertriebsmodelle auch in diese Richtung anpassen?

Der Trend geht insgesamt wohl zu mehr Einfachheit, weil die Kunden sich das wünschen. Einerseits sparen weniger Produktvarianten Kosten, weil die Herstellung weniger komplex ist. In der Zusatzausstattung stecken allerdings attraktive Margen, deshalb haben viele Hersteller in diesem Punkt noch nicht umgedacht.

Wie beurteilen Sie die Aussichten für Tesla insgesamt?

Tesla hat kaum mit den Widrigkeiten des Gesamtmarkts zu kämpfen und deshalb stärker vom E-Mobilitätsboom profitiert als traditionelle Hersteller. Zugleich baut Tesla selbst Batterien, was ein klarer Vorteil ist – zumal Konkurrenten beim Tempo in der Entwicklung neuer Batteriegenerationen wohl nicht mithalten können. Auch in Sachen Software hat das Unternehmen einen Vorsprung. Elon Musk verfügt zudem über ein großes Marketingtalent und formuliert extrem offensive Wachstumsziele, die traditionellen Autobauern wohl nicht zuzutrauen wären. Weil Tesla tatsächlich immer wieder Erfolgsmeldungen für sich verbuchen kann, ist es gut möglich, dass eine Kurskorrektur trotz der hohen Bewertung und der verhaltenen Fundamentaldaten noch länger auf sich warten lässt.

Wann wird Tesla von der Realität eingeholt?

Das Absatzziel von 20 Millionen ausgelieferten Einheiten im Jahr 2030 wird wohl nicht zu halten sein – schon fünf Millionen wären eine enorme Leistung. Die aktuellen Kursniveaus reflektieren allerdings bereits die beste aller Welten. Dementsprechend heftig können die Rückschläge ausfallen, wenn Musk seine Zielsetzungen herunterschrauben muss. Zudem kommt es bei fast jedem innovativen Unternehmen nach dem ersten Wachstumsschub irgendwann zu einer Bewertungskorrektur, weil sich das Umfeld für den Sektor eintrübt, Anleger auf das einstmals neue Geschäftsmodell keine Prämie mehr zahlen und die Gewinnerwartungen sinken. Bei Tesla könnte sich dieser Dreifach-Effekt in drei bis vier Jahren bemerkbar machen, wenn möglicherweise interessantere E-Modelle anderer Hersteller auf den Markt gekommen sind.

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