Soziale Netzwerke

Entfesselte Giganten

Spätestens seit Twitter und Facebook dem amtierenden Präsidenten der Vereinigten Staaten nach dem Sturm aufs Kapitol quasi über Nacht das Wort entzogen haben, haben die mächtigen sozialen Netzwerke bei Regierungsverantwortlichen in zahlreichen Ländern die Alarmglocken läuten lassen.

Entfesselte Giganten

Spätestens seit Twitter und Facebook dem amtierenden Präsidenten der Vereinigten Staaten nach dem Sturm aufs Kapitol quasi über Nacht das Wort entzogen haben, haben die mächtigen sozialen Netzwerke bei Regierungsverantwortlichen in zahlreichen Ländern die Alarmglocken läuten lassen. Die Erkenntnis, dass ihre Machtfülle nicht nur zu Problemen mit dem Datenschutz und für den wirtschaftlichen Wettbewerb, sondern auch zu einer globalen Kommunikationshoheit ge­führt hat, löste Unbehagen auf höchster politischer Ebene aus. Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach von einer bedenklichen Zensur, die privaten Unternehmen grundsätzlich nicht zustehe, sondern wenn überhaupt nur dem Staat. Dabei ist bezeichnend, dass die Kanzlerin der Faktenlage offensichtlich mehr Bedeutung zumisst als der Rechtslage. Auf diese wurde von den Sachwaltern des freien Internets umgehend hingewiesen. Private Unternehmen könnten keinerlei Zensur entfalten, sondern tatsächlich nur Staaten, denn dem Ex-US-Präsidenten Donald Trump habe freigestanden, jederzeit Pressekonferenzen oder Interviews zu geben. Daher sei seine Meinungsfreiheit nicht tangiert gewesen. Lediglich auf den von ihm gewählten Plattformen habe er sein Nutzungsrecht – nach mehrfachen Verstößen gegen die Hausordnung – verwirkt.

Es erscheint dabei fast nebensächlich, dass die Anwendung der „Hausordnung“ bei Facebook und Twitter offenbar nach wie vor keinem institutionalisierten Prozess folgt, etwa einer stufenweisen Eskalation bis zum Ausschluss von der Plattform. Stattdessen stellten die Konzerne ihre unkontrollierte Machtfülle mit der Ad-hoc-Abschaltung höchst eindrucksvoll unter Beweis, während sie sich zuvor von ihrer Instrumentalisierung als Kommunikationskanal trotz zahlreicher umstrittener Beiträge Trumps völlig unbeeindruckt gezeigt hatten. Ihre Haltung war im Falle Trumps auch politisch motiviert, aber darüber hinaus ebenso wirtschaftlich nachvollziehbar. Denn ihr Geschäftsmodell ruht im Kern auf der Basis massenhafter Nutzung, die durch möglichst wenig regulatorische Hürden eingeschränkt werden soll. Deshalb ziehen sich die Plattformen in diesen Fällen gern auf ihre Rolle als bloße Intermediäre zurück. Der Wandel vom Intermediär zur Plattformökonomie vollzog sich über Jahre, in denen nicht nur die sozialen Netzwerke, sondern alle Tech-Giganten wie Google, Amazon oder Apple auf ihren Plattformen einem äußerst laxen Haftungsregime unterworfen waren.

Die faktische Kommunikationshoheit – im Gegensatz zur formalen – illustriert die Machtfülle der Unternehmen öffentlich mehr als alles andere. Und sie erhöht auch die Schwierigkeit, ihnen regulatorische Fesseln anzulegen. Aufgrund ihrer globalen Reichweite sind sie für Milliarden Menschen das Mittel der Wahl, haben dabei ein natürliches Monopol. Eingriffsversuche, gerade im Bereich der Haftung, gestalten sich äußerst zäh. Jüngstes Beispiel des Scheiterns ist hierzulande das sogenannte „Anti-Hass-Gesetz“, das die Unternehmen zwingen soll, Hasskommentare nicht nur zu entfernen, sondern auch bei der Ermittlung der Urheber behilflich zu sein. Es stieß jedoch auf verfassungsrechtliche Bedenken. Kritiker sprachen von einer „privatwirtschaftlichen Auslagerung der Rechtsdurchsetzung“ und bemängelten überdies, dass nebenbei eine „riesige Verdachtsdatenbank“ entstehe. Hier zeigt sich eindrucksvoll, dass Regulierung und Haftungsdurchsetzung im Internet oft neue Zielkonflikte heraufbeschwören.

Zentrales Problem bleibt das Geschäftsmodell der Internetriesen, das nur mit globaler Skalierung wirklich erfolgreich ist. Clicks, Chats, Werbung, Suchfunktionen sowie zahlreiche andere Applikationen brauchen dafür globale Reichweite, um ertragreich zu sein. Wenn man in dieser Tendenz zu natürlichen Monopolen eine Gefahr sieht – die offensichtlich auch besteht, wie zahlreiche Verfahren wegen Datenschutz- oder Wettbewerbsvergehen und Machtmissbrauchs mittlerweile zeigen –, steht die Größe der Unternehmen bzw. ihre Plattformökonomie an sich unmittelbar in Frage. Nicht von ungefähr werden Forderungen nach einer Zerschlagung als Ultima Ratio laut. Anders als in den USA gibt es in der EU dafür allerdings keine direkte Rechtsgrundlage. Auch dies ist ein Grund, warum diese mit dem Digital Services Act nach wie vor auf ein Haftungsregime setzt, das unter anderem auch den regulatorischen Wildwuchs in den einzelnen europäischen Ländern beenden soll. Juristen sind dennoch skeptisch. Bisher haben alle Auflagen es nicht geschafft, den Tech-Giganten Zügel anzulegen.

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