InterviewSteffen Tolzien, Metzler

„Sonst wird das System kollabieren“

Metzler-Experte Steffen Tolzien ist davon überzeugt, dass KI besonders im Healthcare-Sektor ihr ganzes Potenzial ausspielen kann. Im Interview der Börsen-Zeitung erklärt der Portfolio-Manager, was heute schon möglich ist und was er für die Zukunft erwartet.

„Sonst wird das System kollabieren“

Im Interview: Steffen Tolzien

„Sonst wird das System kollabieren“

Metzler-Fondsmanager sieht für KI immenses Potenzial im Healthcare-Sektor – Demografie macht günstigere Medizin zwingend notwendig

Portfoliomanager Steffen Tolzien ist davon überzeugt, dass KI besonders im Healthcare-Sektor ihr ganzes Potenzial ausspielen kann. Im Interview der Börsen-Zeitung erklärt der Portfolio-Manager, was heute schon möglich ist und was er für die Zukunft erwartet.

Herr Tolzien, Sie haben sich mit dem Einsatz von KI im Healthcare-Sektor beschäftigt. Welche Möglichkeiten sehen Sie dort für die Zukunft?

Nach unserer Einschätzung ist das Potenzial für künstliche Intelligenz im Healthcare-Sektor immens – insbesondere, wenn man die volkswirtschaftliche Bedeutung der Gesundheitskosten betrachtet. Nehmen wir beispielsweise die USA, den größten Pharmamarkt der Welt: Im letzten Jahr flossen knapp 20% des BIP in Healthcare-Ausgaben und die Tendenz ist weiter steigend. Der Druck auf dem Sektor ist stark. KI könnte hier einen entscheidenden Beitrag leisten, um diese Kosten deutlich zu verringern. Da geht es vor allem um Effizienzgewinne.

Woher kommen diese steigenden Kosten?

Das liegt an der Demografie. Die Babyboomer gehen in Rente und die Menschen werden immer älter – nicht zuletzt dank der Fortschritte in der Medizin. In den letzten Jahren des Lebens ist es aber leider so, dass chronische Krankheiten deutlich zunehmen. Mit zunehmendem Alter treten oft mehrere Erkrankungen gleichzeitig auf, beispielsweise Diabetes, Bluthochdruck und zu hohe Cholesterinwerte. Das führt zwangsläufig zu steigenden Kosten, die am Ende des Tages auch bezahlt werden müssen. Und ich glaube, da gibt es sehr viele, sehr vielfältige Einsatzgebiete für KI. Zum Beispiel im operativen Betrieb von Behörden und Krankenhäusern ist durch Digitalisierung noch sehr, sehr viel möglich. Und das gleiche gilt auch für Regulierungs- und Zulassungsbehörden. Der große Treiber für Verbesserungen ist auf der einen Seite die Demografie und auf der anderen Seite die unbedingte Notwendigkeit, Kosten aus dem System zu nehmen. Sonst wird es kollabieren.

Und was ist heute schon möglich? Wo kommt KI in Forschung und Praxis bereits zum Einsatz?

KI wird bereits eingesetzt, aber wir stehen noch ganz am Anfang. Das bedeutet, dass das Potenzial enorm ist. In Gesprächen mit dem Management von Unternehmen fragen wir aktiv nach, wo KI bereits im Unternehmen eingesetzt wird. Die Antwort ist fast immer dieselbe: Die meisten Pharmaunternehmen befinden sich noch in einer Experimentierphase. Von signifikanten Kosteneinsparungen sind wir noch entfernt. Der Return wird in den nächsten Jahren sichtbar werden. Zunächst werden Backoffice-Tätigkeiten in der Verwaltung, immer wiederkehrende Arbeiten in Pharmaunternehmen und Krankenhäusern rationalisiert.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Ich habe vor ein paar Tagen die Führung eines großen Pharmaunternehmens getroffen. Dieses Unternehmen vermarktet über 600 Produkte in über 100 Ländern und hat dabei mit beträchtlichem Papieraufwand zu kämpfen – sei es für Versicherungen, Regulierungsbehörden oder Compliance. Immer wieder müssen die gleichen Formulare ausgefüllt werden. In einem ersten Schritt kann KI hier Effizienzgewinne bringen und die Marketingausgaben besser steuern. Das sind die low hanging fruits. Dass wir neue, innovative Produkte sehen, das wird noch ein bisschen dauern.

Wann sehen wir die ersten KI-Produkte?

Die Entwicklung eines Medikaments dauert im Schnitt zehn bis zwölf Jahre. Das heißt, selbst wenn Unternehmen KI vor zwei, drei Jahren implementiert haben, sind diese Produkte noch nicht marktreif. Entsprechend ist heute auch noch kein rein auf KI basiertes Medikament auf dem Markt zugelassen. In den nächsten fünf bis acht Jahren werden wir sehen, dass Medikamente auf den Markt kommen, bei deren Entwicklung KI zumindest schon mitgeholfen hat. Der heilige Gral für Pharmakonzerne ist natürlich, wenn sie ihre Forschung durch KI deutlich effizienter gestalten können. Eine Medikamentenentwicklung kostet heute je nach Größe der klinischen Studien und je nach Therapiefeld zwischen ein bis zwei Mrd. Euro. Ein Pharmaunternehmen investiert im Schnitt ungefähr 20% seines Umsatzes wieder in die Forschung und Entwicklung. Da haben Sie einen richtigen Hebel. Und das ist wie geschaffen für KI mit der Fähigkeit, große Datenmengen zu analysieren. Die Pharmaunternehmen sitzen auf Tonnen von Daten. Über Moleküle, über Proteine, über Wechselwirkungen von Stoffen, über Patientendaten. KI ist dazu prädestiniert, diese Daten sinnvoll zu analysieren oder auch zu simulieren.

Was meinen Sie damit?

Bestimmte Schritte in der Forschung können durch Simulation übersprungen werden. Beispielweise könnten Tierversuche reduziert oder sogar ganz ersetzt werden, indem gewisse Wirkungsmechanismen im Körper oder in den Zellen am Computer simuliert werden. Das spart nicht nur Ressourcen, sondern geht auch deutlich schneller. Auch da besteht dank KI immenses Potenzial. Unternehmen generieren eine große Menge von potenziellen Wirkstoffen, testen sie und das, was am besten abschneidet, wird dann in klinischen Studien weiterverfolgt. Wenn dieser ganze Prozess professionalisiert und effizienter gemacht werden könnte, könnte das die Zulassungswahrscheinlichkeit deutlich steigern. Momentan gibt es einfach so viele Vorhaben, die abgeschrieben und nicht weiterverfolgt werden, weil man vielleicht die falschen Schlüsse aus den Daten zieht. So viel Geld, Zeit, Kapazität, die verloren gehen. Haben Sie den Namen AlphaFold schonmal gehört?

Nein. Das sagt mir nichts.

Google DeepMind hat ein wirklich spannendes KI-System entwickelt. David Baker, Demis Hassabis und John Jumper haben 2024 den Nobelpreis für Chemie für ihre Arbeit zur Vorhersage und Gestaltung von Proteinstrukturen mithilfe von KI und rechnergestütztem Proteindesign verliehen bekommen. Das KI-Modell nennt sich AlphaFold und was das System so großartig macht, ist, dass es die Struktur von Proteinen vorhersagen kann. Besser als alles, was bisher da gewesen ist. Viele Mediziner sprechen hier sogar von einem Paradigmenwechsel. Wenn man vorher weiß, wie diese Proteine sich verhalten, kann man viel besser vorhersagen, wie sie wahrscheinlich im Körper wirken werden und welche Wechselwirkungen sie haben. Das ist ein echter wissenschaftlicher Durchbruch. Alphabet hat daraufhin eine 100%ige Biotech-Tochter namens Isomorphic Labs gegründet. Die nutzt dieses Modell und versucht, die Pharmaforschung grundlegend zu revolutionieren, sodass es künftig nicht mehr Jahre dauert, bis man ein vielversprechenden Wirkstoff entdeckt, sondern vielleicht nur noch Monate. Das wäre auch sehr viel kosteneffizienter. Isomorphic Labs hat auch schon zwei Partnerschaften veröffentlicht, nämlich mit Novartis und Eli Lilly. Es gab nicht umsonst den Nobelpreis dafür.

Wo kann KI noch helfen?

Ein großes Einsatzgebiet ist die Diagnostik. In der Radiologie kann eine KI beispielsweise Röntgenbilder mit einer Datenbank von Millionen Aufnahmen sofort abgleichen und dabei potenziell weniger übersehen als ein menschliches Auge. Meines Erachtens wird KI hier eher unterstützend sein. Es wird immer einen Radiologen geben, der sich aber nicht mehr nur auf seine Erfahrung verlässt, sondern sich durch die KI unterstützen lässt. Damit ist er schneller, effizienter und in der Lage, viel mehr Diagnosen zu stellen, die dann im Zweifel auch richtig sind. Auch da gibt es einen riesigen Markt und massives Potenzial. Dann gibt es noch die elektronische Krankenakte. Die operativen Workflows im Krankenhaus können viel stärker digitalisiert werden, um dem Gesundheitssystem Kosten zu sparen. Ein Drittel der Gesundheitskosten in den USA gehen allein auf Krankenhäuser zurück. Diese Kosten entstehen aber nicht nur bei der Arbeit am Patienten, sondern beispielsweise im Einkauf oder in der Verwaltung. Laut einer McKinsey-Studie wird es im Jahr 2030 einen globalen Engpass von 10 Millionen Beschäftigten in der Gesundheitsindustrie geben. Dieser Arbeitskräftemangel, gepaart mit den demographischen Veränderungen und dem Kostendruck - hier könnte KI einen riesigen Effizienzgewinn bedeuten.

KI macht Medizin also günstiger?

Eine effizientere Pharmaforschung sollte betriebswirtschaftlich dazu führen, dass mehr Medikamente auf den Markt kommen. Wenn die Entwicklung günstiger wird und weniger Zeit in Anspruch nimmt, sinken die Eintrittsbarrieren. Dann gibt es mehr Wettbewerb, was wiederum zu mehr potenziell innovativen Medikamenten führen kann. Wenn ich mir die Medikamentenzulassung der letzten zehn Jahre anschaue, dann hat die amerikanische Gesundheitsbehörde FDA im Schnitt 50 neue Medikamente pro Jahr zugelassen. Ein Effizienzgewinn von nur 10% könnte bedeuten, dass in den nächsten zehn Jahren 50 neue Medikamente mehr auf den Markt kommen könnten. Was noch dazukommt: Neun von zehn Pipeline-Medikamenten kommen niemals auf den Markt, haben aber dennoch Kosten verursacht Die Produkte, die auf den Markt kommen, müssen also das Geld miterwirtschaften für die Produkte, die ein Unternehmen  abschreibt. Wenn eine KI die Erfolgswahrscheinlichkeit deutlich erhöht und zusätzlich dafür sorgt, dass das Produkt viel schneller kommerzialisiert werden kann, habe ich auch nicht so einen Druck, in kurzer Zeit viel Geld verdienen zu müssen, um die Verluste, aus den Misserfolgen der Pipeline wieder reinzuholen bevor nach 20 Jahren der Patentschutz abläuft.

Wie läuft die Implikation von KI im Pharmasektor?

Die Unternehmen entwickeln die KI meistens nicht selbst. Sie beziehen die Systeme von Technologieanbietern. Sie gehen entweder Partnerschaften ein oder kriegen die Dienste einfach über die Cloud. Die Entwicklung von KI ist nicht die Kernkompetenz von Pharmaunternehmen. Es wäre daher ineffizient, wenn diese selbstständig ihre eigene KI entwickeln würden.

Was bedeutet all das für Investoren und Anleger? Worauf kann man setzen?

Wir glauben, dass der Healthcare-Sektor sowohl in der Medizintechnik, in der Diagnostik als auch bei Pharma und Biotech strukturell ein Gewinner sein kann. Es gibt viele Krankheiten, bei denen die Medizin aktuell nur die Symptome behandeln, nicht aber eine Heilung herbeiführen kann. Da kann Technologie helfen. Darüber hinaus gibt es die großen Wachstumstrends wie Demografie und den Aufbau von funktionierenden Gesundheitssystemen in den Emerging Markets. Leider ist es noch so, dass viele Länder gar keinen Zugang zu innovativen Medikamenten haben, weil diese einfach zu teuer sind. Auch das könnte sich ändern. Der Markt könnte deutlich größer werden. Das heißt, wir sind für den Healthcare-Sektor optimistisch, was die strukturellen Trends angeht. Die Unternehmen arbeiten an vielen innovativen Themen wie zum Beispiel Zell- oder Gentherapien. Es gibt viele spannende, vielversprechende Therapieansätze, die die Medizin innerhalb der nächsten Jahre grundlegend verändern könnten. Diese Entwicklung wird sich mit KI nochmal beschleunigen.

Darum sehen wir den Sektor positiv. Die schwächere Performance in diesem Jahr führen wir auf regulatorische Gründe zurück. Wir sind langfristige Investoren, die auf strukturelle Wachstumstrends schauen. Da sehen wir uns in der Gesundheitsbranche momentan gut aufgestellt.

Der KI-Sektor ist stark US-dominiert. Gilt das auch für den Bereich Healthcare und KI?

Healthcare ist ein globaler Sektor. Europäische Unternehmen wie Roche und Novartis aus der Schweiz, Astrazeneca aus Großbritannien, Sanofi aus Frankreich, Novo Nordisk aus Dänemark haben eines gemeinsam: Sie sind global aufgestellt und die USA ist der größte Markt. Diese Differenzierung nach Standorten ist eher ein Technologiethema. In Europa haben wir diesen strukturellen Trend meines Erachtens leider bislang zu wenig genutzt. Im Pharmasektor ist das anders. Alle europäischen Unternehmen haben auch Forschungs- und Entwicklungszentren in den USA. Dort befinden sich die Eliteuniversitäten, wo die Unternehmen besonders talentierte Mitarbeiter rekrutieren können. Im Biotechsektor sind die USA allerdings nach wie vor führend, was primär am besseren Zugang zu Kapital liegt. Eine andere Beobachtung ist, dass die großen Tech-Unternehmen selbst zunehmend im Bereich Healthcare aktiv werden, weil das ein großer Markt mit attraktiven Margen ist. Da könnten neue potente Player auf den Markt kommen. Dafür gibt es auch schon Beispiele: Amazon steigt in den Apothekenmarkt in den USA für nicht verschreibungspflichtige Medikamente ein. Die neue Apple Watch kann auch den Blutdruck messen. Alphabet ist sehr forschungs- und entwicklungslastig und hat bereits einige Unternehmen in diesem Bereich gegründet. Das ist ein Thema, was man im Auge behalten muss.

Zur Person: Steffen Tolzien, CIIA und CESGA, ist seit 2012 bei Metzler. Seit 2021 ist er im Team Global Equities als Portfoliomanager für globale Aktienstrategien verantwortlich. Zuvor war er neun Jahre im Geschäftsbereich Private Banking als Buy-Side-Analyst tätig.

Das Interview führte Tobias Möllers.

Das Interview führte Tobias Möllers.