Im Doppelinterview: Ulrike Malmendier und Martin Werding

„Die private Vorsorge muss jetzt schnell kommen“

Eine überschaubare Auswahl an kostengünstigen Fondsanlagen und einfachen Standardprodukten sollen nach dem Konzept des Sachverständigenrats für Wirtschaft in die Vorsorgedepots für die private Vorsorge wandern. Warum es dabei nicht ohne staatliche Intervention und eine neue Behörde geht, erklären die Wirtschaftsweisen Ulrike Malemendier und Martin Werding im Interview.

„Die private Vorsorge muss jetzt schnell kommen“

Im interview: Ulrike Malmendier und Martin Werding

„Die private Vorsorge muss jetzt schnell kommen“

Wirtschaftsweise für kostengünstiges und renditestarkes Standardprodukt − Hoffnung auf mehr Aktien beim Vermögensaufbau in der breiten Bevölkerung

Eine überschaubare Auswahl an kostengünstigen Fondsanlagen und einfache Standardprodukten sollen nach dem Konzept des Sachverständigenrats für Wirtschaft in die Vorsorgedepots für die private Vorsorge wandern. Warum es trotz der Grundidee von viel Wettbewerb nicht ohne staatliche Intervention und eine neue Behörde geht, erklären die Wirtschaftsweisen Ulrike Malemendier und Martin Werding im Interview.

Frau Prof. Malmendier, Herr Prof. Werding, Sie wollen die kapitalgedeckte private Altersvorsorge in Deutschland reformieren. Wie?

Werding: Wir schlagen ein Vorsorgedepot vor, aufbauend auf internationalen Vorbildern und wissenschaftlichen Erkenntnissen. 

Wie sieht es aus?

Werding: Unser Vorsorgedepot kombiniert eine automatische Teilnahme mit einer überschaubaren Auswahl an kostengünstigen, renditestarken Fondsanlagen, einfachen Standardprodukten nach dem Lebenszyklusprinzip und flexiblen Auszahlungsoptionen.

Was erhoffen Sie vom Vorsorgedepot?

Malmendier: Die Rente ist der Aufhänger, aber wir wollen mehrere Probleme lösen. Im Rentensystem laufen wir auf einen Kollaps zu. Die Riester-Rente steckt in der Sackgasse. Aber zugleich ist es sehr betrüblich, wie in Deutschland Vermögen aufgebaut bzw. nicht aufgebaut wird. Deutschland steht da, wo die USA oder andere Länder vor 60 Jahren waren.

Was betrübt Sie so sehr?

Malmendier: Die Sparquote ist hoch, aber die Menschen investieren in renditeschwache, festverzinsliche Produkte und lassen sich so im langfristigen Durchschnitt 5% Rendite entgehen. Das ist nicht nur die bildungsferne oder einkommensschwächere Bevölkerung, das ist oft auch der gehobene Mittelstand. Für ein Umdenken hin zu Kapitalmarktanlagen zu sorgen wäre gut für den Vermögensaufbau der Bevölkerung. Tiefere Kapitalmärkte wären langfristig gut für das Land.

Die kapitalgedeckte Altersvorsorge soll ein Standardprodukt vorsehen. Wie sieht das aus?

Werding:  Es geht um zwei Dinge – die Produktstandardisierung für einen intensiveren Wettbewerb und eine staatlich angebotene Default-Lösung. Das standardisierte Produkt mit Lebenszyklusmodell kann von vielen Anbietern kommen. Es sind offene Investmentfonds (UCITS) mit handelbaren Wertpapieren und Infrastrukturfonds (ELTIF) mit nicht-börsennotierten Anlagen. Verschiedene Anbieter werden sie leicht unterschiedlich ausgestalten. Aber der Typ sollte derselbe sein, so dass sie vergleichbar sind. Daneben gibt es das Default-Produkt für Teilnehmer, die keine aktive Produktwahl treffen. Es ist auch ein Standardprodukt und steht im Wettbewerb mit den privaten Anbietern.

Wie passt die geplante Frühstartrente für Kinder von 6 bis 18 Jahre ins Vorsorgedepot?

Malmendier: Das Vorsorgedepot soll lebenslang und kapitalmarktbasiert sein und vom Kindesalter über das Erwerbsleben bis in den Ruhestand reichen. In der Frühstartrente angesparte Beträge müssen nahtlos in das Vorsorgedepot überführt werden können.

Werding: Damit müssen auch die regulatorischen Anforderungen an die Anlageprodukte und Anlageformen weitgehend identisch sein. 

Welche Art von Kriterien für die Anlageprodukte schwebt Ihnen vor?

Werding: Streuung ist ganz wichtig. Wie haben die Liquidität und die üblichen UCITS-Kriterien vor Augen. Bei der Frühstartrente und der anschließenden Aufbauphase können es 100%ige Aktienfonds sein. Im Lebenszyklusmodell müssen die Anteile hoher Risikoklassen 4, 5 oder 6 zum Renteneintritt hin auf 1 oder 2 heruntergenommen werden. Die Klasse 3 kann im Standardprodukt ausgelassen werden. Diese Mischfonds sind in der Ansparphase zu risikoarm, in der Auszahlungsphase zu risikoreich. 

Gilt dies auch für die immer noch lange Rentenphase?

Werding: Wir orientieren uns am schwedischen Modell. Dort wird im Alter zwischen 55 bis 75 Jahren umgeschichtet – von 100% auf ein Drittel Aktienanteil. Aktien sollten nicht auf null gefahren werden. Noch interessanter ist das Rechenmodell des Forschungsinstituts ZEW. Dort wird zwischen 52 und 67 Jahren über 15 Jahre schrittweise umgeschichtet. Der Aktienanteil bleibt auch am Ende bei 55%.

Welchen Kreis soll die kapitalgedeckte private Rente erreichen?

Werding: Die Vorsorge soll alle Erwerbspersonen erfassen, mit einer Opt-Out-Lösung. Die Frühstartrente sollte alle Kinder und Jugendlichen von 6 bis 18 Jahren erreichen.

Es scheint nicht so leicht zu sein, die Adressanten zu ermitteln? 

Malmendier: Wir hoffen, dass die Regierung unserem Vorschlag folgen wird. Die Familienkassen können über das Kindergeld alle Familien erreichen. Sie können über die Identifikationsnummer mit den Einwohnermeldeämtern feststellen, ob sie in Deutschland sind und damit schulpflichtig.

Was ist mit den Erwachsenen?

Malmendier: Idealerweise wachsen Menschen über die Frühstartrente in das Vorsorgedepot. Zum Start könnten die Versicherten der Gesetzlichen Rentenversicherung erreicht werden. Dies sind 87% der Beschäftigten. Die Einbeziehung weiter Gruppen müsste vorbereitet werden.

Wieviel Zeit bleibt dafür?

Werding: Keine. Wir reden seit Jahren von Rentenreformen im Umlagesystem. Wir brauchen ergänzende kapitalgedeckte Vorsorge. Das muss schnell gehen. Diese Vorsorge muss vor allem die heute 30 bis 40-jährigen erreichen, denn sie sind die großen Verlierer unseres aktuellen Rentensystems. Grundsätzlich muss sie alle Erwerbspersonen erfassen. 

Wie soll der Staat mit denen umgehen, die in der Vorsorge bleiben, sich aber schwer entscheiden?

Malmendier: Dafür hätten wir gern eine staatlich organisierte Lösung wie in Schweden oder Großbritannien. Das Default-Produkt greift bei Menschen, die keine Zeit haben oder bildungsfern sind oder nicht wissen, was sie tun sollen.

Das ist keine kollektive Lösung wie das Generationenkapital?

Werding: Nein. Wichtig ist, dass jeder Einzelne den Eigentumsanspruch hat und ein individuelles Konto. Damit ist das Kapital auch geschützt vor staatlichem Zugriff.

Was muss die Default-Lösung bieten?

Malmendier: Für den staatlich verwalteten Default-Fonds haben wir gute Vorbilder. Die Gebühren sind gering und die Aktienanlagen breit gestreut. Und es werden keine renditeschmälernden Garantien oder Sparprodukte eingebracht. Aber wir wollen den Wettbewerb hochhalten. Ein Wechsel zu privaten Angeboten soll jederzeit möglich sein.

Wer soll das staatliche Default-Produkt liefern?   

Malmendier: Der Staatsfonds Kenfo könnte es sein, die Bundesbank oder die Förderbank KfW. Es kommt darauf an, wer das beste Konzept liefert. 

Muss die Bundesbank im Markt nicht neutral bleiben?

Werding: Die Bundesbank legt schon den Pflegevorsorgefonds an sowie die Rücklagen einiger Länder zur Versorgung ihrer Beamten. 

Der Sachverständigenrat will die Fondsauswahl beschränken. Warum?

Malmendier: Wir haben von Schweden gelernt. Das Land hatte immer einen Default-Fonds, wollte aber in der Anfangsphase das Angebot nicht einschränken. Die Menschen haben Fonds nach seltsamen Kriterien ausgesucht oder trafen am Ende keine Auswahl. Wir wollen es den Leuten einfach machen. Sie sollen erst einmal eine limitierte Anzahl von Fonds haben – mit hoher Diversifikation und niedrigen Gebühren. Aus verhaltensökonomischer Sicht ist das sinnvoll.

Wird dann nicht ein großer Teil des Marktes ausgeschlossen?

Malmendier: Die Menschen unter dem Deckmantel der freien Wahl mit tausenden von Fonds zu überfluten, das ist unlauter. Wir haben genug Evidenz, dass es so nicht funktioniert, weil es die meisten Menschen überfordert.

Wer entscheidet über die beschränkte Fondsauswahl und nach welchen Kriterien?

Malmendier: Wir schlagen nach dem schwedischen Modell eine Fondsauswahlbehörde vor. Gerade in den Anfangsjahren ist es sehr wichtig, dass das funktioniert. Theoretisch könnte ein Algorithmus breite Diversifizierung, Liquidität, Gebühren und ähnliches sicherstellen. In der Praxis muss darüber aber eine Gruppe von Leuten entscheiden. Anleger dürfen nicht fehlgeleitet werden, sondern sollten Vertrauen gewinnen.

Sie empfehlen mehr Bürokratie.

Malmendier: Es muss kein Bürokratiemonster sein. In Schweden ist es eine schlanke Behörde mit ca. 30 Leuten. Das Land ist zwar viel kleiner, aber die Entscheidungen sind unabhängig davon, ob es 8 oder 80 Millionen Einwohner gibt. Die Fondsauswahlbehörde muss unabhängig besetzt sein und das Wohl von Land und Leuten im Sinn haben. Wenn wir ein Land werden, das in den Kapitalmarkt investiert, wäre das gut für alle, auch für die Finanzindustrie. 

Was sagen Sie Kritikern?   

Werding: Wir haben so viel falsch gemacht mit der Riester-Rente. Schweden hat auch nicht von Anfang an alles richtig gemacht. Aber wir können von Schweden viel lernen. Wir müssen loslegen.

Stichwort Kosten: Sie wollen niedrige Kosten realisieren – auch mit einem staatlichen Preisregime?

Werding: Kosten begrenzt man durch ein einfaches Produktdesign und günstige Vertriebswege. Darüber hinaus diszipliniert Wettbewerb. Ein Default-Produkt mit geringen Kosten kann Richtwert für den Markt sein.

Malmendier: Internationale Beispiele zeigen, dass kapitalgedeckte Vorsorge zu sehr geringen Kosten ohne Preisregime machbar ist. Der Default-Fonds sollte offen und transparent sein, was die Kosten sind und was der Bürger bezahlen muss. Uns ist sehr wichtig, dass es durch Wettbewerb geregelt wird.

Die Finanzbranche sollte besser nichts verdienen?

Malmendier: Die Anbieter werden im Hinterkopf haben, dass es eine enorme Anzahl zusätzlicher Kunden gibt, wenn ein breiter Teil der Bevölkerung in den Kapitalmarkt investiert. Schweden und Dänemark sind dafür gute Beispiele.

Die Abschlusskosten sind oft ein großes Ärgernis. Was geschieht bei einem Produktwechsel?

Malmendier: Die Abschlusskosten sollen proportional über die Anlagezeit verteilt werden. Produktwechseln müssen sehr einfach gemacht werden. Das ist wichtig. Das sollte auch nicht schwierig umzusetzen sein. Es sind alles liquide Fonds. Es gibt keinen Grund, da Gebühren hochzuziehen.

Was sollte der Gesetzgeber regeln?

Malmendier: Ein Default-Fond mit extrem niedrigen Gebühren könnte einen Maßstab für die anderen Standardprodukte setzen. Bei der Fondauswahl für die Standardprodukte könnten diejenigen mit den günstigsten Kosten gewinnen. Ein Cut bei einer vernünftigen Obergrenze halte ich zudem für sinnvoll.  

Bezieht sich der Cut auf laufende Kosten oder auf Abschlusskosten?

Malmendier: Wir denken vor allem an die laufenden Kosten. Idealerweise müssten bei einmaligem Reingehen in und Rausgehen aus den Fonds keine extra Gebühren anfallen.

Und was passiert mit den verteilten Abschlusskosten, wenn man das Produkt wechselt?

Malmendier: Wir hätten gern nichts am Anfang und nichts am Ende, sondern alles verteilt. Wenn man auf der Hälfte der Laufzeit wechselt, zahlt man nur die Hälfte.

Dürfen Anbieter die Fondszusammensetzung während der Laufzeit anpassen, etwa weil die Marktlage eine andere ist?

Werding: Wir reden hier über Laufzeiten von 30 bis 40 Jahren. Dafür können keine unabänderlichen Vorgaben gemacht werden. Die Fondsauswahlbehörde schreibt für einen bestimmten Zeitraum aus – in Schweden für sechs Jahre. In dieser Zeit müssen die Anbieter an ihrem Modell festhalten, danach können sie es anpassen. Innerhalb des Vorsorgedepots kann umgeschichtet werden, aber die Anlage muss im Altersvorsorge-Programm bleiben. Dafür sorgt schon die nachgelagerte Besteuerung.

Sollten Garantien das Langlebigkeitsrisiko absichern?

Malmendier: Bei den Riester-Renten hat Deutschland verlangt, dass die kapitalgedeckte Altersvorsorge später in eine Leibrente umgewandelt werden muss. Das war die Eintrittskarte für die Versicherungsindustrie, aber auch der Weg zu niedrigeren Renditen als bei einem Aktiendepot. Da sind wir international die Ausnahme.

Wie gestalten Sie die Auszahlung?

Werding: Wir wollen echte Eigentumsansprüche wie andere Länder. Die Anleger bekommen das Geld zurück, könne damit umbauen oder umziehen, es ausgeben oder es vererben. Wir brauchen ein individuelles Konto mit Zugriffsrecht.

Der Staat will aber keine Kreuzfahrten finanzieren.   

Malmendier: Es ist empirisch nicht nachweisbar, dass Rentner das Geld verprassen und womöglich in der Grundsicherung landen.  

Was wäre eine gute Lösung für laufende Riester-Verträge?

Werding: Idealerweise sollte eine zulagenunschädliche Umwandlung ermöglichen sein. Dann bekommt das neue Altersvorsorgeprogramm auch gleich ein bisschen Schub. Der Wechsel der Anlageform wäre für die alten Riester Kunden gut.

Die Förderstruktur mit nachgelagerter Besteuerung und Zulagen soll erhalten bleiben?

Werding: Die Riester-Fördersystematik mit nachgelagerter Besteuerung und Zulagen sollte beibehalten werden.

Was heißt das finanziell für den Staat?  

Werding: Es wird teurer, wenn mehr Menschen vorsorgen. Die Riester-Kosten liegen heute bei 4 Mrd. Euro jährlich. Bei automatischer Einbeziehung von rund 80% der Erwerbspersonen und konstanter Höhe, lägen die Mehrausgaben bei 5 Mrd. Euro. Wir empfehlen einen Ausgleich an gestiegene Löhne und Preise und eine regelgebundene Dynamisierung. Die Grundzulage wurde seit 2008 nur einmal geringfügig erhöht, die Kinderzulage gar nicht mehr. Die maximale Sparsumme im Jahr beträgt 2.100 Euro. Wenn das aktuell nicht möglich wäre, ist es aber kein Grund, das Programm nicht zu starten.

Auch die Frühstartrente kostet: Sollte sie nur für den Jahrgang der Sechsjährigen starten oder für alle Jahrgänge bis 18? 

Malmendier: Wir hatten ursprünglich das Kinderstartgeld von 6 bis 18 Jahren als Finanzbildungsprogramm konzipiert. Da war uns sehr wichtig, mit den Sechsjährigen zu starten. Nur die haben einen Anlagehorizont von zwölf Jahren. Die jungen Menschen sollen persönliche Erfahrungen mit Marktschwankungen machen und sehen, wie der Ausgleich am Aktienmarkt über längere Zeit funktioniert.

Werding: Wenn der Zugriff auf das Vorsorgevermögen erst zum Rentendatum kommt, könnten alle Jahrgänge bis 18 starten. Die Langfristigkeit ist gegeben und die Überführung ist eine Riesenchance, die Rente auf neue Füße zu stellen.

Sollten bei der Frühstartrente nicht alle erreicht werden, weil sich manche nicht melden, braucht man dafür eine Auffanglösung, eine kollektive Lösung?

Malmendier: Wenn wir ein Land werden wollen, in dem die breite Bevölkerung Kapital investiert, ist es wichtig, alle mitzunehmen. Nur so gelingt die Vertiefung des Kapitalmarktes in Deutschland und die Sicherung von Wachstum und Kapitalmarktfinanzierung. Eine Default-Lösung ist also enorm wichtig, aber sie sollte individuelle Eigentumsansprüche schaffen.

Bis Jahresende soll der Gesetzentwurf für die private Vorsorge vorliegen – ein guter Zeitplan?

Werding: Die private Vorsorge muss jetzt schnell kommen. Wir verlieren wieder Jahr um Jahr. Ergänzende Vorsorge ist in Deutschland verbreiteter als viele glauben. Aber sie wird bisher meistens nicht gut gemacht und es gibt Lücken. Beides kann man mit unserem Programm zum Vorsorgedepot massiv verbessern.

Das Interview führte Angela Wefers


Das Interview führte Angela Wefers.