„Meloni sollte auf Europa setzen“
„Meloni sollte auf Europa setzen“
Im Gespräch: Lucrezia Reichlin
„Meloni sollte auf Europa setzen“
Die Ökonomin wirft Italiens Premierministerin eine Re-Nationalisierung und Reformunfähigkeit vor – Sorge um demografische Entwicklung
Von Gerhard Bläske, Mailand
bl Mailand
Die bekannte italienische Ökonomin Lucrezia Reichlin sieht die Entwicklung Italiens unter Premierministerin Giorgia Meloni mehr als kritisch. Statt auf Europa zu setzen, betreibe sie eine Re-Nationalisierung vieler Branchen und verfolge einen „besorgniserregend“ ambivalenten Kurs gegenüber den USA, sagte sie im Gespräch mit der Börsen-Zeitung.
„Noch halten die Märkte ruhig“
„Noch halten die Märkte ruhig“, stellt sie fest. Die Premierministerin solle aber auf Europa setzen, „statt die Banken zu zwingen, Staatsanleihen zu kaufen, um die Abhängigkeit vom Ausland zu reduzieren und mit der Golden-Power-Regelung befreundete Industrielle zu unterstützen sowie sich gegen außen abzuschotten, was eine Rückkehr in die 70er-Jahre des vorigen Jahrhunderts bedeutet.“ Die Re-Nationalisierung schaffe große Risiken und sei das Gegenteil dessen, was Meloni machen sollte. „Italien schafft es nicht allein, denn es gibt auch noch das Problem mit den wachsenden chinesischen Einfuhren. Wir brauchen eine europäische Kapitalmarktunion. Wir brauchen Europa.“
Reichlin, die an der London Business School unterrichtet und von 2005 bis 2008 die Forschungsabteilung der EZB leitete, hält das positive Image Italiens für nicht gerechtfertigt. „Das aktuelle Image ist verzerrt. Angesichts fehlender Reformen, des Auslaufens des Europäischen Wiederaufbauprogramms NextGeneration im nächsten Jahr und einer dramatischen demografischen Lage ist das Land auf dem Weg zurück zu einem anämischen Wachstum“, sagt sie. Schon in den letzten Jahren sei das Land schwächer gewachsen als etwa Spanien und Frankreich. Für dieses Jahr prognostiziert die EU-Kommission nur noch ein Plus von 0,4%.
Strohfeuer
Die Wirtschaft wäre längst geschrumpft, so die Einschätzung von Emmanuele Orsini, Chef des Industriellenverbandes Confindustria. Verhindert hätten dies nur die Hilfen von insgesamt fast 200 Mrd. Euro aus dem NextGeneration-Programm sowie die 2024 gestoppten beispiellos großzügigen Förderung des ökologischen Umbaus von Gebäuden, die aber nur ein kurzes konjunkturelles Strohfeuer entfacht hatten. Doch der Spread zwischen zehnjährigen deutschen und italienischen Anleihen ist mit 72 Basispunkten auf den niedrigsten Stand seit 2010 gefallen. Private Anleger reißen Rom neue Anleihen aus der Hand. Die Mailänder Börse steigt seit Jahren stärker als fast alle anderen Aktienmärkte. Die Rating-Agenturen haben reihenweise die Bewertung angehoben. Und das Haushaltsdefizit soll 2026 auf 2,8% sinken. Das eingeleitete EU-Defizitverfahren ist damit wohl vom Tisch.
Die Perspektiven sind dennoch düster. Die großzügige Förderung des ökologischen Umbaus hat die Schulden nach oben getrieben. Laut EU-Kommission steigen sie von 135% auf 138% im kommenden Jahr. Und damit sprudeln auch die Steuereinnahmen weniger üppig. Die Binnennachfrage lahmt, weil die Realeinkommen seit Jahren sinken. Das liegt teilweise auch an der geringen Produktivität, die seit 20 Jahren stagniert.
Verzicht auf Reformen
„Es bräuchte dringend Investitionen, aber die bleiben aus“, sagt Reichlin. Die Hoffnungen Melonis auf Großinvestitionen aus China, von Elon Musk oder in eine Batteriefabrik haben sich nicht erfüllt. Die Mode-Industrie bricht ein. Die Autoindustrie ist im freien Fall. Es rächt sich, dass Meloni auf Reformen verzichtet hat: „Meloni hat nichts getan. Die Regierung hat keine Strategie und auf Reformen etwa des Wettbewerbsrechts, die neue Impulse hätten geben können, verzichtet“, kritisiert die Ökonomin.
Sie sieht noch weitere Risiken: Die hohen Energiekosten, die noch über den deutschen liegen, und die US-Strafzölle. „Ich bin sehr besorgt darüber, was da noch kommen könnte“, meint Reichlin. Und die vielen Kleinunternehmen seien nicht in der Lage, die notwendigen Investitionen in Innovationen oder eine Expansion in andere Länder zu finanzieren. Allein vom Tourismus mit den größtenteils unqualifizierten und schlecht bezahlten Saison-Arbeitsplätzen kann das Land nicht leben. Die Beschäftigungsquote ist zwar gestiegen. Doch mit 63% liegt sie deutlich unter dem europäischen Durchschnitt von 76%.
Mehr Einwanderung?
Die Bevölkerungszahl schrumpft seit Jahren. Zudem verlässt ein großer Teil der gut ausgebildeten jungen Leute das Land. „Mario Draghi hat mit seinem Gesetz, das gut ausgebildete Arbeitskräfte etwa durch steuerliche Anreize zurücklocken sollte, richtig gehandelt. Aber das reicht bei weitem nicht“, so Reichlin. „Es bräuchte mehr Einwanderung. Die aber will die Bevölkerung nicht.“
Die italienische Ökonomin Lucrezia Reichlin hält das derzeit positive Image Italiens für nicht gerechtfertigt. Im Gespräch mit der Börsen-Zeitung kritisiert sie fehlende Reformen und zeigt sich besorgt über die demografische Entwicklung.
