EZB-GELDPOLITIK IM FOKUS - GASTBEITRAG

Was zehn Jahre Niedrigzinsen für die Sparer in Europa bedeuten

Börsen-Zeitung, 24.10.2018 Seit Beginn der Verwerfungen an den globalen Güter- und Kapitalmärkten im Jahr 2008 kennen die Leitzinsen im Euroraum mit Ausnahme einer kurzen Periode Anfang 2011 nur eine Richtung: abwärts. Heute, zehn Jahre nach Beginn...

Was zehn Jahre Niedrigzinsen für die Sparer in Europa bedeuten

Seit Beginn der Verwerfungen an den globalen Güter- und Kapitalmärkten im Jahr 2008 kennen die Leitzinsen im Euroraum mit Ausnahme einer kurzen Periode Anfang 2011 nur eine Richtung: abwärts. Heute, zehn Jahre nach Beginn dieser Phase, stehen sie auf historisch niedrigem Niveau, aber zum ersten Mal seit langer Zeit gibt es Anzeichen, dass sie dieses in absehbarer Zeit wieder verlassen könnten.Wir haben dies zum Anlass genommen und gefragt: Was bedeutet ein Jahrzehnt Niedrigzinsen für die Sparer in Europa? Darüber wurde bereits viel diskutiert, mitunter auch gestritten. Vor allem von deutscher Seite wurde immer wieder auf die negativen Auswirkungen für die heimischen Sparer verwiesen, häufig jedoch mit zweifelhaften Belegen. Die Deutsche Bundesbank ermittelte schließlich Angaben zur realen Rendite, die hiesige Haushalte mit ihrem finanziellen Vermögen (Geldvermögen) erzielten. Demnach fiel diese auch nach Krisenbeginn meist positiv aus und rutschte erst Anfang 2018 ins Negative – was im Übrigen auch schon vor der Krise gelegentlich passierte. Aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive scheinen die Auswirkungen der Niedrigzinsen diesbezüglich in Deutschland also weniger dramatisch zu sein als vielfach befürchtet, zumindest bisher. Doch gilt das auch anderswo? Welche reale Rendite erzielten Haushalte in den anderen großen Ländern des Euroraums? Und wie unterscheiden sich die Renditen der Niedrigzinsphase von jenen vor der Krise?Zur Beantwortung dieser Fragen haben wir unterschiedlichste Daten zusammengetragen, diese entlang der Bundesbank-Methode für die Jahre 2000 bis 2017 ausgewertet und so einen neuen – und nach unserem Kenntnisstand bisher einzigartigen – Datensatz zum Thema generiert. Hierzu haben wir die nominalen Renditen der wesentlichen finanziellen Anlageformen privater Haushalte (Bankeinlagen, Schuldverschreibungen, Aktien, Investmentfondsanteile sowie Forderungen gegenüber Versicherungen und Pensionseinrichtungen) bestimmt und diese anschließend mit ihren jeweiligen Anteilen am Geldvermögen gewichtet; nichtfinanzielle Aktiva wurden nicht berücksichtigt. Die so bestimmte nominale Gesamtportfoliorendite wurde mit den nationalen Inflationsraten deflationiert und abschließend in eine reale Ex-post-Gesamtrendite transformiert.Im Ergebnis zeigt sich, dass negative reale Renditen – entgegen den Argumenten einiger Kritiker der EZB-Politik – in allen betrachteten Ländern weder neu noch ein ausschließliches Merkmal des Niedrigzinsumfeldes sind. Zudem weist der zeitliche Verlauf der Renditen im Ländervergleich ein ähnliches Muster auf (siehe Grafik). So erzielten private Haushalte überall schon zu Beginn der Währungsunion für einige Zeit negative Renditen. Noch in der “Honeymoon”-Phase des Euroraums klettern diese aber bis einschließlich 2007 deutlich in den positiven Bereich. Die krisenbedingten Turbulenzen ließen die Renditen ab 2008 zunächst zwischen positiven und negativen Werten schwanken. Doch seit 2012 erwirtschafteten die privaten Haushalte durchweg positive reale Renditen – überall. Enge VerflechtungenAuch ein Vergleich der durchschnittlichen realen Gesamtrenditen zwischen 2000 und 2017 zeigt keine großen Unterschiede. So lag sie in Frankreich und Deutschland im Mittel mit 1,98 % und 2,03 % leicht über dem Euroraum-Durchschnitt von 1,8 % und in Italien und Spanien mit 1,16 % und 1,67 % leicht darunter. Diese Ähnlichkeiten überraschen vor dem Hintergrund der engen wirtschaftlichen Verflechtungen kaum. Teilt man den Gesamtzeitraum jedoch in zwei Phasen, wobei Phase 1 die Vorkrisenjahre 2000 bis 2007 und Phase 2 die Krisen- und Nachkrisenjahre 2008 bis 2017 (und somit auch den gesamten Zeitraum des Niedrigzinsumfelds) abdeckt, tritt durchaus Überraschendes zutage: Im Mittel fielen die Renditen während der Niedrigzinsphase nämlich höher aus als in den Jahren zuvor. In Phase lag sie bei 1,77 %, in Phase 2 bei 1,82 %. Die einzige Ausnahme bildet Italien. Dort sank die Gesamtrendite von 1,26 % auf 1,07 %. Die höhere Rendite in Phase 2 sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gesamtrenditen seit 2012 überall einem fallenden Trend folgen. Außerdem waren auch die Schwankungen auf nationaler Ebene teils deutlich unterschiedlich. Aber dennoch: Aus makroökonomischer Perspektive lagen die realen Renditen in allen betrachteten Ländern – mit Ausnahme Deutschlands – selbst im Jahr 2017, dem letzten Beobachtungsjahr in unserer Untersuchung, noch oberhalb des jeweiligen langfristigen Durchschnitts.Dies auf den ersten Blick wenig intuitive Ergebnis hat verschiedene Ursachen. Sie lassen sich am besten begreifen, wenn man die Gesamtrendite einerseits in die jeweilige Struktur des Geldvermögens und ihre Veränderungen über die Zeit (Mengeneffekte) und andererseits in die Veränderungen der realen Renditen der einzelnen Anlageklassen in den jeweiligen Ländern (Preiseffekte) zerlegt. Basierend auf dieser Dekomposition und abhängig von der relativen Stärke und Richtung dieser Preis- und Mengeneffekte ergeben sich so unterschiedliche länderspezifische Entwicklungen hinsichtlich der Beiträge der einzelnen Anlageformen.Es zeigt sich, dass die jeweiligen Veränderungen der durchschnittlichen realen Gesamtrenditen von Phase 1 nach Phase 2 primär von drei Entwicklungen getrieben wurden. Erstens haben die privaten Haushalte fast überall den Portfolioanteil von Bankeinlagen erhöht. In Spanien, Italien und dem Euroraum insgesamt erzielten Bankeinlagen in Phase 2 geringere negative Renditen und somit insgesamt etwas höhere reale Erträge als in Phase 1. In Frankreich und Deutschland sanken die realen Renditen hingegen in Phase 2 und fielen in Deutschland in den negativen Bereich. Insgesamt trugen Bankeinlagen also in beiden Phasen entweder nur schwach positiv oder sogar negativ zur Gesamtrendite bei.Zweitens erhöhten die Haushalte in allen Ländern nach 2008 den Anteil an Forderungen gegenüber Lebensversicherungen und Pensionseinrichtungen. Deren Renditen sanken jedoch gleichzeitig überall (Ausnahme: Spanien). Der Beitrag dieser Vermögensform zur Gesamtrendite war in Deutschland und Frankreich in beiden Phasen von hoher Bedeutung und wuchs in Phase 2 in allen Ländern, mit Ausnahme Frankreichs, da der Rückgang der realen Renditen durch steigende Portfolioanteile überkompensiert wurde.Drittens reduzierten die privaten Haushalte in allen Ländern nach 2008 den Anteil von Wertpapieren, wobei deren Renditen, mit Ausnahme der realen Aktienrenditen in Italien und Spanien, gleichzeitig zum Teil kräftig stiegen. Infolgedessen sank die Bedeutung der Wertpapiere für die Gesamtrendite in Italien und Spanien in Phase 2 deutlich. In Deutschland und Frankreich erhöhten sich hingegen die Wertpapierbeiträge in Phase 2, da die sinkenden Portfolioanteile durch die Zunahme der Renditen überkompensiert wurden. Kräftige SchwankungenFazit: Die realen Renditen des Geldvermögens privater Haushalte unterlagen seit Beginn der Währungsunion mitunter kräftigen Schwankungen. Auch negative Erträge traten dabei immer wieder und nicht erst seit Oktober 2008 auf. Zudem fielen die durchschnittlichen realen Renditen während der Niedrigzinsphase sogar höher aus als zu Zeiten des geldpolitischen “old normal” (Ausnahme: Italien). Die seitens der EZB-Kritiker häufig bemühten Bankeinlagen trugen durchweg kaum zur Gesamtrendite bei. Ungleich wichtiger waren die übrigen Anlageklassen, wenn auch mit national variierender Bedeutung. Dessen ungeachtet zeigen unsere Ergebnisse aber auch, dass die realen Gesamtrenditen überall seit 2012 einem rückläufigen Trend folgen. Sollten also die Notenbankzinsen entgegen allen Erwartungen doch noch länger auf ihrem derzeitigen Niveau verharren, ist von einem weiteren Rückgang der Renditen auszugehen. Begegnen könnten Haushalte dem durch angemessene Anpassungen der Portfoliostruktur.Unsere Ergebnisse weisen darauf hin, dass es bezüglich der dafür notwendigen ökonomischen Kenntnisse Nachholbedarf gibt, denn während Haushalte in den vergangenen Jahren vor allem in (durchweg) renditeschwache Anlageformen investierten, wurden renditestärkere Positionen abgebaut, wohl auch wegen der häufig höheren Schwankungen. Hier könnte die Wirtschaftspolitik ansetzen. EU-weite Initiativen wie beispielsweise die Kapitalmarktunion sind dafür zweifellos richtig und notwendig, aber wohl nicht hinreichend. Die Tatsache, dass die realen Renditen bislang höher ausgefallen sind als vielfach angenommen, sollte kein Anlass sein, sich auf dem bisher Erreichten auszuruhen – auch nicht im Jahr zehn nach Beginn der Phase der Niedrigzinsen.—-Marc Peter Radke, Hochschule Furtwangen—-Manuel Rupprecht, Fachhochschule Münster