Im BlickfeldExklusivitätsgutscheine in der Pharmabranche

Antibiotika: Ein Markt, der versagt und eine Lösung, die spaltet

Die Welt braucht dringend neue Antibiotika, doch die kostspielige Entwicklung rechnet sich für Pharmafirmen oft nicht. In der EU sollen Hersteller nun mit Gutscheinen dazu gebracht werden, mehr in dem Bereich zu forschen. Doch dies könnte zu großen Verwerfungen am europäischen Medikamentenmarkt führen.

Antibiotika: Ein Markt, der versagt und eine Lösung, die spaltet

Antibiotika: Ein Markt, der versagt und eine Lösung, die spaltet

Die Welt braucht dringend neue Antibiotika, doch die kostspielige Entwicklung rechnet sich für Pharmafirmen oft nicht. In der EU sollen Hersteller nun mit einem Gutschein-System dazu gebracht werden, mehr in dem Bereich zu forschen. Doch der Ansatz stößt auf Kritik.

Von Karolin Rothbart, Frankfurt

Wie viele Menschen der Einnahme von Antibiotika ihr Leben verdanken, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Klar ist aber, dass es viele Millionen sind. Denn vor dieser Entdeckung konnten selbst kleine Schnittwunden zu einer tödlichen Infektion mit Bakterien führen.

Diese Zeiten sind zwar vorbei. Allerdings treibt die Welt heute ein anderes Problem um, das ebenfalls mit Bakterien zu tun hat, und zwar mit solchen, die wegen des übermäßigen Einsatzes von Antibiotika Resistenzen dagegen gebildet haben. Solche Keime, bei denen antimikrobielle Arzneimittel nicht mehr anschlagen, stellen aus Sicht der Weltgesundheitsorganisation WHO eine der größten globalen Bedrohungen für die öffentliche Gesundheit dar. Laut Schätzungen der University of Washington sterben jedes Jahr weltweit mehr als eine Million Menschen daran. Die Zahl der Todesfälle, bei denen resistente Erreger beteiligt sind, ist um ein Vielfaches größer. Besonders Ältere sind betroffen.

Kaum noch neue Antibiotika

Helfen könnten neue Antibiotika. Deren Entwicklung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten jedoch deutlich verlangsamt. Während die meisten der heute bekannten Wirkstoffklassen wie etwa Penicillin oder Glykopeptide zwischen den 1920er- und 1970er Jahren entwickelt wurden, kommen heute kaum noch Antibiotika mit wirklich neuartigem Wirkmechanismus auf den Markt.

Der Grund dafür ist das Risiko, dass Bakterien und andere Mikroben wie Pilze oder Viren Resistenzen bilden können, wodurch der Einsatz neuer Antibiotika mittlerweile recht restriktiv gehandhabt wird. Sie werden als sogenannte „Reserveantibiotika“ gehandelt, also nur bei schweren Infektionen angewandt, bei denen andere, herkömmliche Antibiotika keine Wirkung mehr haben. Die Verkaufszahlen solcher neuer Antibiotika sind in der Folge eher gering.

„Es ist ein strukturelles Problem“, sagt Pharmarechts-Experte Wolfgang Voit von der Universität Marburg. „Denn durch den niedrigen Absatz neuer Antibiotika lassen sich die hohen Forschungs- und Entwicklungskosten in dem Bereich nicht finanzieren.“ Tatsächlich könne der gesamte Prozess der Arzneimittelentwicklung von der Entdeckung des Moleküls bis hin zur Zulassung mehr als 15 Jahre dauern und über 1 Mrd. Euro kosten.

Es überrascht vor dem Hintergrund nicht, dass große Pharmakonzerne in der Vergangenheit aus der Antibiotikaforschung ausgestiegen sind. 2018 zogen sich die Branchenriesen Novartis und Sanofi aus dem Geschäft zurück. AstraZeneca verkaufte den Unternehmensbereich bereits 2016. Bayer, Bristol Myers Squibb und Eli Lilly hatten ihre Antibiotikageschäfte noch deutlich früher heruntergefahren.

Mehrere Ansätze denkbar

In all den Jahren ist in der Branche viel darüber diskutiert worden, wie sich dieser wichtige Forschungszweig trotz der finanziellen Herausforderungen wiederbeleben lässt. Eine europäische Initiative namens „Innovative Medicines Initative“ hatte 2018 beispielsweise in einem drei Jahre dauernden Projekt unter Mithilfe von Universitäten, Forschern, Pharmaunternehmen und öffentlichen Einrichtungen verschiedenste Anreizformen untersucht und ausgewertet. Auf der Shortlist der Empfehlungen standen beispielsweise öffentliche Zuschüsse für Forschungsprojekte oder Geldprämien, die Antibiotika-Entwickler bei erfolgreicher Zulassung erhalten könnten.

Der Abschlussbericht des Projekts „Drive AB“ enthielt zugleich eine Liste an Anreizen, die für die Förderung von Innovationen im Bereich der Antibiotika als „unzureichend“ erachtet wurden. Darunter fielen auch sogenannte „Transferable exclusivity vouchers“, also handelbare Gutscheine, die Pharmaunternehmen bei erfolgreicher Zulassung eines Antibiotikums erhalten könnten und mit denen sie den Marktschutz für ein anderes Medikament ihrer Wahl verlängern könnten.

Die Autoren des Berichts sahen in solchen Gutscheinen zwar einen „starken Anreiz für Innovationen im Bereich der Antibiotika“. Im Verhältnis zu deren Nutzen dürften die geschätzten Kosten allerdings „zu hoch“ sein. Denn Pharmaunternehmen, so hieß es, würden für solche Exklusivitäts-Gutscheine „nur dann bezahlen, wenn sie davon ausgehen, damit Gewinne zu erzielen“. Diese Gewinne würden auf Kosten der vielen europäischen Länder gehen, in denen die Gesundheitsversorgung staatlich organsiert sei.

Schutz vor Fremdnutzung von Studiendaten

Jahre nach Vorlage des Berichts ist in der EU nun trotzdem ein solches Gutschein-System geplant. Im Rahmen des sogenannten EU-Pharmapakets, mit dem das EU-Arzneimittelrecht umfassend reformiert werden soll, verhandeln Kommission, Parlament und der EU-Rat derzeit unter anderem über eine Verordnung, die die Gewährung von übertragbaren Gutscheinen für solche Pharmafirmen vorsieht, die neue „prioritäre antimikrobielle Mittel“ entwickeln. Die Gutscheine sollen den Inhabern ein zusätzliches Jahr Unterlagenschutz gewähren – entweder für das neu entwickelte Antibiotikum oder für ein anderes eigenes Arzneimittel ihrer Wahl. Der Originalhersteller des betroffenen Medikaments soll also ein Jahr länger vor Fremdnutzung seiner Studiendaten in Zulassungsanträgen von Generikaherstellern geschützt werden.

In Teilen der Pharmabranche findet der Ansatz durchaus Anklang. Die Idee, dass Unternehmen die Gutscheine auch verkaufen können, sei beispielsweise für die vielen kleinen und mittleren Antibiotika-Entwickler interessant, die keine anderen Produkte im Markt haben, heißt es beim Verband der forschenden Pharmaunternehmen in Deutschland. Laut der BEAM Alliance, einem Netzwerk aus Unternehmen, die in der Antibiotikaforschung aktiv sind, stellen KMUs mittlerweile immerhin 80% des weltweiten Portfolios an Produkten gegen antimikrobielle Resistenzen. „Für sie kann der Verkauf dann eine lukrative Einnahmequelle darstellen“, sagt auch Voit.

Sorge vor Kostenexplosion

Es gebe aber auch eine Kehrseite. „Denn natürlich sind es am Ende die Verbraucher, beziehungsweise die jeweiligen Sozialversicherungssysteme, die die anhaltend hohen Preise durch den verlängerten Unterlagenschutz zahlen“, so Voit. Hier finde quasi eine Verschiebung statt: „Man schafft Anreize zur Entwicklung von Reserveantibiotika auf Kosten derjenigen, die Medikamente benötigen, auf die die Entwickler die Verlängerung des Unterlagenschutzes dann anwenden.“

Beim europäischen Verbraucherverband BEUC fürchtet man deswegen um die finanziellen Folgen für die öffentlichen Gesundheitssysteme: Übertragbare Exklusivitätsgutscheine würden diese "in der gesamten EU enorm belasten“, heißt es dort. „Denn Pharmaunternehmen werden die Gutscheine wahrscheinlich für ihre profitabelsten Medikamente verwenden.“

Der Verband gibt ein Rechenbeispiel: Die Gewährung eines zusätzlichen Jahres Exklusivität für das Pharmaunternehmen, das für die Herstellung des Wirkstoffs Adalimumab zur Behandlung von entzündlich-rheumatischen Erkrankungen verantwortlich ist, „würde wegen der verzögerten Markteinführung eines günstigeren Nachahmer-Medikaments Kosten in Höhe von 1 Mrd. Euro für die Gesundheitssysteme der EU verursachen“.

Zwar hat der EU-Rat in seinem Standpunkt zum Gesetzesvorschlag zuletzt unter anderem eine Änderung eingeführt, mit der „das Risiko einer übermäßigen Belastung des Haushalts durch die Verwendung des Gutscheins“ vermieden werden soll, wie es in einem Bericht von Ende Dezember heißt. Demnach schlägt der Ministerrat vor, dass der Hersteller nachweisen muss, dass er mit dem Produkt, auf das er den Gutschein anwenden will, in den vorangegangenen vier Jahren in der EU nicht mehr als 490 Mill. Euro pro Jahr an Umsatz eingefahren hat.

Kritik vom Generikaverband

Beim europäischen Generikaverband Medicines for Europe ist man – wenig überraschend – trotzdem gegen die Gutscheine. Nicht nur sehen die Hersteller günstigerer Nachahmerprodukte ebenfalls das Risiko „dramatisch steigender Kosten für die Gesundheitssysteme“. Zugleich würden sie auch den Zugang von Patienten zu Generika und Biosimilars, also günstigeren Nachahmerprodukten von Biopharmazeutika, „unangemessen verzögern" und dafür sorgen, dass Menschen „finanziell für innovative Medikamente aufkommen müssen, die sie gar nicht nutzen“. In keiner anderen Region der Welt, so der Verband, gebe es ein solches gutscheinbasiertes Anreizsystem.

Pharmarechtsexperte Voit sieht darüber hinaus noch ein weiteres Problem – und zwar das Preisgefälle bei Medikamenten innerhalb der EU. „Je nach Sozialversicherungssystem gibt es Mitgliedstaaten, in denen die Arzneimittelpreise höher sind als woanders“, sagt er. In der Theorie könne die jetzige Ausgestaltung des Voucher-Systems somit dazu führen, dass es in Ländern mit hohen Medikamentenpreisen einen größeren wirtschaftlichen Schaden für die Krankenkassen verursacht. „Solche möglichen Unwuchten ließen sich durch die direkte Finanzierung aus dem EU-Haushalt vermeiden.“