Russland

Auf Konfliktsuche

Die Russen sind in einer schwierigen, langfristigen Selbstfindungsphase. Alte imperialistische Reflexe waren bisher durch die außenpolitischen Manöver von Wladimir Putin leicht aktivierbar. Aber das scheint sich geändert zu haben.

Auf Konfliktsuche

Die Russen sind in einer schwierigen, langfristigen Selbstfindungsphase. Alte imperialistische Reflexe waren bisher durch die außenpolitischen Manöver von Wladimir Putin leicht aktivierbar. Aber das scheint sich geändert zu haben.

Putin kennt sein Volk. Es ist das Einzige, was der sonst so unerschrockene Mann fürchtet. Daher verfolgt der Kreml die Stimmungslage penibel und studiert Umfragen genau. Putin wusste natürlich immer um einen Charakterzug der Russen, den der Sowjet-Dissident Andrej Sinjawskij so beschrieb: „Und doch ist das Wichtigste am russischen Menschen, dass er nichts zu verlieren hat.“ Er sei bereit, „das letzte Stück zu opfern“.

Es ist verblüffend, dass diese Bereitschaft auch nach dem ersten Wohlstandsaufbau der Nullerjahre im Jahr 2014 mit der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim wie ein Reflex reaktivierbar war. Die Zustimmung zur Annexion war überwältigend. Mag sein, dass die Russen mit Sanktionen nicht gerechnet hatten. Ihren Wohlstand setzten sie jedenfalls aufs Spiel.

Doch die Annexion ist acht Jahre her. Und anders als im vorigen Jahrtausend, in dem die Menschen wirklich nichts zu verlieren hatten, macht ihnen der Wohlstandsverlust nun doch zu schaffen. Seit 2014 sanken die real verfügbaren Einkommen um über 10%. Die Inflation stieg – auch wegen Putins Importembargo auf westliche Lebensmittel – auf über 8%. Inflation und Verarmung gelten Umfragen zufolge als die größten Probleme.

Natürlich ist eine Alternative zu Putin bislang nicht vorstellbar. Aber bei einer Sonntagsfrage im November erzielte er nur noch 32% – der niedrigste Wert seit 2014. Er könnte zu einem außenpolitischen Abenteuer verlockt sein, die bisher das Rating erhöht haben, schreibt Lewada-Direktor Denis Wolkow: „Aber die russische Gesellschaft wirkt heute ermüdet von der Konfrontation mit dem Ausland.“ Dass sich die Russen so wie 2014 um den Kreml konsolidieren lassen, ist kaum zu erwarten.

Die Bevölkerung steckt zwischen einer sowjetischen Hörigkeit mit imperialistischem Re­flex, die Putin prolongieren will, und einer aufgeklärten Bürgerlichkeit im Wohlstand. In dieser Phase der Neuorientierung 2008 eine Erweiterung in die Ukraine ins Spiel gebracht zu haben, war auch seitens der Nato kurzsichtig. Nun dürfte es sich von Putin als kurzsichtig erweisen, wenn er glaubt, dass er für ein weiteres außenpolitisches Manöver zu Hause wieder Applaus erntet. Ein Einmarsch in der Ukraine könnte innenpolitisch katastrophal danebengehen.

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