Im BlickfeldItalienische Wirtschaft

Der Ruf ist viel besser als die wirkliche Lage

Unter Premierministerin Giorgia Meloni hat sich das Image Italiens deutlich verbessert. Doch die Realität des Landes sieht weniger positiv aus.

Der Ruf ist viel besser als die wirkliche Lage

Der Ruf Italiens ist viel besser als die wirkliche Lage

Die Wachstumsraten gehen zurück und die Schulden steigen – die von Premierministerin Giorgia Meloni versprochenen Reformen bleiben aber aus.

Von Gerhard Bläske, Mailand

Italien genießt an den Märkten eine Sonderkonjunktur: Gleich reihenweise haben die Rating-Agenturen in den letzten Wochen ihre Bewertungen angehoben. Der Spread zwischen zehnjährigen Staatsanleihen aus Deutschland und Italien ist mit zeitweise 74 Basispunkten auf das niedrigste Niveau seit 2010 gefallen. Allein innerhalb der letzten zwölf Monate ging er um 41 Punkte zurück. Italien refinanziert sich mit 3,38%. Und beim jüngsten Verkauf von Bonds Ende Oktober rissen die Kleinanleger Rom die Staatstitel geradezu aus den Händen.

Die Märkte honorieren die stabile Haushaltspolitik. Die Mailänder Börse hängt mit Ausnahme von Madrid alle anderen ab. Im kommenden Jahr will die Regierung in Rom das Haushaltsdefizit auf 2,8% senken. Das Defizitverfahren der EU dürfte wohl beendet werden.

Stabilitätsanker Europas?

Der ewige Unsicherheitskandidat Italien gilt plötzlich als Stabilitätsanker in Europa. Nur zwei Regierungen haben nach dem Krieg länger regiert als die aktuelle, die seit mehr als drei Jahren im Amt ist. Die Chancen auf die Wiederwahl der Regierungskoalition unter Premierministerin Giorgia Meloni stehen bestens.

So weit die Sonnenseite Italiens. Doch das Image des Landes ist deutlich besser als die reale Lage. Die Industrieproduktion sinkt seit zweieinhalb Jahren – Monat für Monat. Seit 2021 beträgt der Rückgang 8,4%. Und nach einem Minus von 0,1% im zweiten Quartal hat die Wirtschaft im dritten Quartal stagniert. Ohne das Europäische Wiederaufbauprogramm NextGeneration, dessen größter Nutznießer Italien mit insgesamt fast 200 Mrd. Euro ist, würde die Wirtschaft laut Francesco Giavazzi, früherer Wirtschaftsberater der Premierminister Mario Monti und Mario Draghi, längst schrumpfen. Zwischen dem dritten Quartal 2022 und dem dritten Quartal 2025 ist sie um gerade mal 1,44% gewachsen. In den letzten sieben Quartalen hat sie nur um 0.7% zugelegt.

Frankreich ist im gleichen Zeitraum um 1,5% gewachsen, Griechenland um 3,5%, Spanien um 5,7%. Dabei sind die Einnahmen aus dem Tourismus in Italien stark gestiegen. Die Beschäftigungsquote in der Gruppe der 15- bis 64-Jährigen hat sich zwar laut Statista im zweiten Quartal auf 67% erhöht. Damit hinkt sie aber dem EU-Durchschnitt von 76% oder der deutschen Quote von 80,5% weit hinterher, vor allem bei Frauen.

Stagnierende Produktivität

Für 2025 wird nur ein Wirtschaftswachstum von 0,5% erwartet. 2026 dürfte mit einem Plus von 0,7% nicht viel besser werden. Trotz Steuersenkungen ist die Steuerquote in Melonis Amtszeit von 41,4 auf 42,6% gestiegen. Inflation und reale Einkommensverluste von 7% seit 2021 dürften den ohnehin lahmenden Konsum kaum beleben. Höhere Löhne wären aber angesichts der seit 20 Jahren stagnierenden Produktivität, die in den vergangenen drei Jahren sogar um drei Prozentpunkte gesunken ist, Gift für die Wirtschaft. Die Unternehmen leiden ohnehin unter im europäischen Vergleich beispiellos hohen Energiekosten von durchschnittlich 85,28 Euro pro Megawattstunde zwischen Januar und August: Doppelt so viel wie in Deutschland und mehr als dreimal so viel wie in Frankreich.

Unterdessen steigen die Schulden: Von 135% im vergangenen Jahr auf voraussichtlich 137% des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2027. Grund dafür ist auch die lange Zeit extrem großzügige Förderung der ökologischen Sanierung von Gebäuden (Superbonus 110). Sie entfachte ein kurzzeitiges, aber extrem teures, konjunkturelles Strohfeuer. Die Schuldenlast aber wuchs um mehr als 120 Mrd. Euro.

Fehlende Reformen

Mit dem Auslaufen von NextGeneration droht Italien in die Rezession zu rutschen. Denn die Mittel wurden nicht zur Stärkung der Wettbewerbsbedingungen ausgegeben, sondern dienten etwa der Anhebung der Renten, der Finanzierung diverser Vorruhestandsregelungen und anderer Wohltaten. Die Renten-Kosten steigen bis 2040 von 15,3% auf 17,1% des Bruttoinlandsprodukts.

Meloni hat keine der im Gegenzug für die europäischen Hilfen versprochenen Wirtschaftsreformen durchgeführt. Eine Reform des Wettbewerbsrechts etwa scheiterte am Widerstand der Taxifahrer, der Strandbadbesitzer oder der Energiekonzerne. Das trägt dazu bei, die Preise hochzuhalten und trifft die Verbraucher. In vielen Fällen wird auf Ausschreibungen verzichtet, etwa beim Bau der Brücke nach Sizilien. Und beim neuen Kapitalmarktgesetz wurden einzelne Privatunternehmen wie das des Bau- und Medien-Unternehmers Francesco Caltagirone begünstigt.

Dämpfer für Italien

Der Staat mischt sich immer mehr in die Wirtschaft ein und verhindert Wettbewerb nicht nur im Bankensektor, der Zinssenkungen nicht an die Kunden weitergibt und hohe Gebühren verlangt. Das ist laut Giavazzi mit ein Grund dafür, dass die Preise in Italien vielfach zu hoch sind und das Wachstum nicht in Gang kommt. Kreditnehmer zahlen zu hohe Zinsen.

Die US-Strafzölle versetzen Italiens Wirtschaft einen weiteren Dämpfer. Und die Importe aus China sind im bisherigen Jahresverlauf um fast 30% gestiegen und haben das Außenhandelsdefizit mit Peking nach oben getrieben. Unter den wachsenden Einfuhren aus China leidet etwa die Autoindustrie. Der Elektroauto-Bauer BYD hat jetzt sogar Fiat in Italien überholt. Und die Modebranche des Landes läutet die Alarmglocken, weil ihr Importe aus China immer mehr zu schaffen machen. Hoffnungen Melonis auf Großinvestitionen etwa von Elon Musk (Tesla, Starlink), von chinesischen Autoanbietern wie BYD oder für den Bau von Batteriefabriken haben sich nicht erfüllt: Die meisten Großinvestoren machen einen Bogen um Italien.

Bevölkerungsrückgang

Das liegt an der geringen Produktivität des Landes, den hohen Energiekosten und vielen Hindernissen wie einer überbordenden Bürokratie, einer extrem langsamen Justiz und einem Bildungssystem, das zu viele Schulabbrecher erzeugt. Von den gut ausgebildeten jungen Leuten wandern viele aus: bis dato in die USA, aber auch nach Großbritannien, Deutschland und in die Schweiz. Dazu kommt eine extrem negative demografische Entwicklung: In den kommenden zehn Jahren geht die Zahl der Erwerbstätigen in Italien um sechs Millionen zurück. Seit 2019 ist die Bevölkerung Italiens jedes Jahr um 126.000 Einwohner gesunken. Zwar hat Meloni den Forderungen der Wirtschaft teilweise nachgegeben und die legale Einwanderung ins Land deutlich erhöht. Doch nach Ansicht etwa des früheren IWF-Ökonomen Carlo Cottarelli reicht das nicht: Nach seiner Ansicht braucht es jährlich eine Zuwanderung von 350.000 Menschen, um das bestehende System aufrechtzuerhalten.