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Deutsche Konzerne fehlen in der Topliga

Der Kursrutsch an den Weltbörsen im ersten Halbjahr 2022 hat Billionen Dollar an Marktkapitalisierung vernichtet. Nach Sektoren traf es Technologiewerte am härtesten, während Öl- und Gaskonzerne gegen den Trend zulegten. So zog Saudi Aramco u.a. an Apple vorbei; der Energieriese ist nun das schwerste Unternehmen der Welt. Deutsche Konzerne sucht man in den Top 100 vergebens. SAP liegt auf Platz 113.

Deutsche Konzerne fehlen in der Topliga

md Frankfurt

Die Marktkapitalisierung der 100 wertvollsten Unternehmen der Welt ist im ersten Halbjahr um 17% oder 6,1 Bill. Dollar gesunken. In der Analyse der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft EY, die das Ranking aufstellte, wird der deutliche Rückgang auf die politischen und wirtschaftlichen Turbulenzen zurückgeführt. „Die erheblich eingetrübten Konjunkturaussichten, die hohe Inflation, steigende Zinsen und die massiven geopolitischen Spannungen haben zu einer tiefgreifenden Verunsicherung geführt – obwohl viele der Top-Konzerne nach wie vor hohe Gewinne ausweisen“, so Henrik Ahlers, Vorsitzender der Geschäftsführung von EY. „In allen Weltregionen und fast allen Branchen verloren Unternehmen erheblich an Wert“, stellt er fest. Ahlers erwartet vorerst keine nachhaltige Erholung an den Weltbörsen. Vielmehr rechnet er mit einem sehr schwierigen zweiten Halbjahr: „Die Hiobsbotschaften häufen sich. Viele Krisen, die sich teils gegenseitig befeuern, müssen bewältigt werden. Die Gefahr einer weltweiten Rezession ist inzwischen real.“

Angesichts der Zinswende gerieten im ersten Halbjahr vor allem hoch bewertete Wachstumsunternehmen unter Druck. Bei den lange favorisierten Tech-Werten kam es teilweise zu scharfen Korrekturen, nachdem sie zuvor, infolge der Pandemie, erhebliche Kurszuwächse verzeichnet hatten. Gemäß EY brach der Börsenwert der Technologiekonzerne insgesamt um 28% ein. Ihre Zahl im Top-100-Ranking ist seit Jahresbeginn von 27 auf 23 gesunken.

Digitalisierung prägend

Laut Ahlers habe sich vor allem die Erwartungshaltung von Investoren geändert: „Zuletzt setzten Investoren eher auf Profitabilität als auf Wachstum. Das Geld sitzt nicht mehr so locker, die Anforderungen an Zielunternehmen und ihre Finanzkennzahlen steigen.“ Ahlers betont jedoch, dass die Digitalisierung in den nächsten Jahren Wirtschaft und Börsen entscheidend prägen wird.

Von den zuletzt 23 Technologieunternehmen im Top-100-Ranking haben gemäß EY 17 ihren Hauptsitz in Nordamerika, vier in Asien und nur zwei in Europa. „Europa leidet aus Sicht vieler Investoren nach wie vor unter einem Mangel an vielversprechenden Technologiekonzernen von Weltformat“, sagt Ahlers. Die USA gäben im IT-Sektor eindeutig den Ton an. „Viele dieser Tech-Unternehmen sind hochprofitabel“, sagt der EY-Geschäftsführer. „Als Gestalter des technologischen Wandels spielen allenfalls noch asiatische Konzerne eine Rolle – europäische Konzerne hingegen kaum“, was sich im Ranking deutlich widerspiegele.

Die einzige Branche, die laut dem EY-Ranking gegen den Abwärtstrend zulegte, ist der Energiesektor: Die Öl- und Gasunternehmen, die sich unter den Top 100 platzierten, steigerten ihren Börsenwert den Angaben zufolge um 19%. Die Branchenvertreter profitierten von den stark gestiegenen Preisen für fossile Brennstoffe. Unter anderem schob sich der Erdölkonzern Saudi Aramco mit einem Börsenwert von 2,3 Bill. Dollar (Stichtag 30. Juni) an der Google-Mutter Alphabet, Microsoft und dem iPhone-Hersteller Apple vorbei auf Platz 1 der teuersten Unternehmen der Welt.

Es ist noch nicht lange her, da schien die große Zeit der Ölmultis an den Weltbörsen vorbei zu sein. So waren Ende 2011 noch vier Ölkonzerne unter den Top 10 weltweit; das teuerste Unternehmen der Welt war damals ExxonMobil. Seitdem hatten sich die Gewichte stark zugunsten von Technologiekonzernen verschoben. So sank die Zahl der Energiekonzerne, die sich unter den Top 100 platzierten, binnen zehn Jahren von 20 (Ende 2011) auf fünf (Ende 2021) – um im ersten Halbjahr dieses Jahres wieder leicht auf sieben zu steigen.

„Der Krieg in der Ukraine und die anschließenden Verwerfungen auf den Energiemärkten haben gezeigt, dass die vermeintlich sichere Energieversorgung gerade in Europa tatsächlich auf tönernen Füßen steht“, sagt Ahlers. „Ein drohender Gasmangel entpuppt sich als fundamentale Bedrohung für viele große Volkswirtschaften, darunter Deutschland. Die Preise für Öl, Gas und Strom werden wohl auf absehbare Zeit hoch bleiben“, mutmaßt der EY-Manager.

An der Dominanz der US-Konzerne hat sich insgesamt wenig geändert: Nach dem ersten Semester 2022 haben 60 der 100 wertvollsten Unternehmen und nicht weniger als neun der zehn schwersten Konzerne ihren Sitz in den USA (siehe Tabelle).

Nicht zuletzt der Digitalisierungstrend hat das Gewicht Europas an den Weltbörsen in den vergangenen Jahren schrumpfen lassen: Vor der Finanzkrise, die Ende 2007 ihren Anfang nahm, kamen noch 46 der 100 wertvollsten Unternehmen der Welt aus Europa. Inzwischen sind es nur noch 16. Das wertvollste europäische Unternehmen ist laut dem Ranking der Schweizer Lebensmittelkonzern Nestlé auf Rang 20.

Deutschland ist erstmals seit Beginn der EY-Erhebungen im Jahr 2006 nicht mehr in den Top 100 vertreten. Zwar belegt Linde im Ranking Platz 74, doch der Industriegase­konzern hat seit der Fusion mit Praxair seinen Hauptsitz in Irland. Der am höchsten bewertete Konzern, der seinen Sitz in Deutschland hat, ist der Software-Anbieter SAP mit einem Börsenwert von 106 Mrd. Dollar auf Rang 113. Die Deutsche Telekom schaffte es mit 98 Mrd. Dollar auf Platz 120. Immerhin ist der Börsenwert des Bonner Konzerns gegen den Abwärtstrend im ersten Halbjahr gestiegen (siehe Grafik).

Umfeld in den USA günstiger

Ahlers führt die starke Entwicklung in den USA auf die höhere Risikobereitschaft dortiger Gründer, die hohe gesellschaftliche Akzeptanz des Unternehmertums sowie die teilweise deutlich besseren Finanzierungsbedingungen zurück: „Vor allem in den USA ist es jungen Unternehmen in den vergangenen Jahrzehnten gelungen, völlig neue Konzepte und Geschäftsmodelle zu entwickeln und damit ganze Branchen zu revolutionieren – diese Unternehmermentalität zahlt sich aus. Europa hat in all diesen Bereichen Nachholbedarf.“ Immerhin bringe die Digitalisierung einem Hochlohnstandort wie Deutschland enorme Potenziale.

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