„Unwägbarkeiten sind immer noch groß"
„Unwägbarkeiten sind immer noch groß"
IM INTERVIEW: RALF THOMAS
„Unwägbarkeiten sind immer noch groß"
Siemens-Finanzvorstand sieht keine klare Richtung im Markt der Automatisierungstechnik – Trennung von Healthineers bringt Milliarden-Buchgewinn
Auch am Tag nach kombinierter Bilanzpressekonferenz und Kapitalmarkttag ist die Unruhe über die Siemens-Prognose und die Dauer der Trennung von Healthineers spürbar. Der Aktienkurs sinkt am Freitag erneut, wenngleich diesmal im Markttrend. Finanzvorstand Ralf Thomas erläutert im Interview, wie er die Zukunft der Automatisierungstechnik sieht – und welchen Weg er bei der Staffelübergabe an seine Nachfolgerin wählt.
Herr Thomas, die Mittelfristplanung von Siemens ist am Donnerstag durchgefallen. Der Aktienkurs ist um 9% eingebrochen. Ist dafür die Enttäuschung über die Aussichten in der Kernsparte Digital Industries verantwortlich?
Das Interesse der Investoren richtet sich dort aktuell vor allem auf die Automatisierungstechnik. Sie ist seit geraumer Zeit unter Druck. Dort haben wir wirklich alle Hebel in die Hand genommen, vom Vertriebsmodell bis zu den dortigen Prozessen mit Digitalisierungsinhalten. Bewegung ist im Prinzip etwas Gutes. Aber Bewegung bedeutet natürlich auch, dass wir noch nicht am Ziel sind. Die Unwägbarkeiten im Markt der Automatisierungstechnik sind immer noch groß.
Besteht ein großes Risiko, dass die Schwächeperiode in der Automatisierungstechnik noch deutlich länger anhält, als sie es ohnehin schon tut?
Das erwarten wir nicht, und wir haben wir ja nicht die Hände in den Schoss gelegt und gehofft, dass es von alleine besser wird. Unsere Kosten für Anpassungsmaßnahmen sind beachtlich. Aber die vollständige Umsetzung dauert eben seine Zeit, auch im laufenden Geschäftsjahr wird es noch Aufwendungen geben. Wenn man diese herausrechnet, war Digital Industries deutlich besser als es sich im Moment darstellt. Wichtig ist: Wir fühlen uns für die Zukunft sehr gut aufgestellt bei Digital Industries.
Aus der Geopolitik kommt ebenfalls Gegenwind.
Ich will die handelspolitischen Spannungen nicht allein dafür verantwortlich machen. Aber es ist offensichtlich, dass sie nicht hilfreich sind. Wir müssen lokale Wertschöpfungsketten weiter verstärken und uns zunehmend mit Wettbewerbern in China auseinandersetzen.
Verliert Siemens dort Marktanteile?
Nach meinem Kenntnisstand nicht. Lokale Wettbewerber nehmen weniger uns als anderen internationalen Anbietern Marktanteile ab.
Zurück zur Prognose: Ist sie dann zu konservativ?
Unsere Prognose ist umsichtig. Allein durch Währungsumrechnung erfahren wir einen Gegenwind von aktuell rund minus vier Prozentpunkten Umsatzwachstum und zwischen 70 und 80 Eurocent im Ergebnis je Aktie. Wenn wir letztlich im laufenden Geschäftsjahr besser abschneiden, ist es mir natürlich recht. Insgesamt stehen wir auf der Prognoseseite vor einer sehr komplizierten Gesamtsituation mit vielen Einflussfaktoren.
Im vierten Quartal hat der Auftragseingang in der Automatisierungstechnik um 30% zugelegt. Ist das nicht ein Zeichen für eine kraftvolle Wende?
Da muss man bei der Bewertung vorsichtig sein. Die Vergleichsbasis im Vorjahr war niedrig, da würde ich die positive Entwicklung nicht überinterpretieren, auch wenn der Trend weiter in die richtige Richtung geht. Aber es ist im Moment noch nicht klar, mit welcher Dynamik sich dieser Trend fortsetzt. Das sagen nicht nur wir, sondern auch die meisten unserer Wettbewerber sehen es ähnlich.
Rockwell scheint mit der Situation besser zurechtzukommen.
Das Unternehmen agiert teils in einem anderen Markt. Wenn ich deren Informationen auch geografisch vergleichbar mache, liegen wir nicht weit auseinander.
Wie wirken sich die Wechselkurse aus?
Die Ergebnisse werden in unsere Konzernwährung Euro umgerechnet, und ein starker Euro wirkt dabei für uns belastend. Außerdem sind die politischen Unwägbarkeiten in diesem Feld groß. Die größten Währungsbelastungen werden wir in der ersten Hälfte des Geschäftsjahres registrieren, insofern wirken sich die prognostizierten Effekte hauptsächlich dort aus.
Sie übergeben den Staffelstab als Finanzchef unerwartet früh an Veronika Bienert. Warum?
Von einer zu frühen Übergabe kann schwerlich die Rede sein. Mein Vertrag läuft bis zum 14. Dezember 2026, das ist allgemein bekannt. Daher ist es natürlich ein wichtiges Thema, wie die Nachfolge im Finanzressort geregelt wird, um Transparenz und Kontinuität zu gewährleisten. Wichtig ist mir, dass wir die Übergabe aktiv gestalten können, um so einen bestmöglichen Übergang auf meine Nachfolgerin zu ermöglichen.
Wie geht dies?
Meine feste Überzeugung ist: Bei jedem Aufgabenwechsel sollte es eine vernünftige zeitliche Überlappung und gut strukturierte Ressortübergabe geben.
Dies scheint Ihnen wichtig zu sein.
Stimmt. Wissen Sie, und dies ist kein Vorwurf, sondern war den Umständen geschuldet einfach so: Vor meiner Ernennung zum CFO bin ich zu einer Aufsichtsratssitzung nach Berlin geflogen, ohne jemals zuvor an einer Vorstands- oder Aufsichtsratssitzung in gestaltender Funktion teilgenommen zu haben. Heute können wir derartige Nachfolge-Prozesse viel besser und vorausschauender vorbereiten. Dazu gehört auch die Übergabe an Frau Bienert.
Sie arbeitet seit einer Stammhauslehre für Siemens.
Ich bin stolz darauf, dass wir die Stelle intern besetzen. Dem Siemens-Aufsichtsrat und insbesondere dessen Vorsitzenden Jim Hagemann Snabe danke ich herzlich, diesen Prozess über einen längeren Zeitraum vorbereitet zu haben. Das ist, übrigens auch im Fall anderer Vorstandspersonalien, eine Governance erster Güte.
Reibereien mit CEO Roland Busch etwa über die Trennung von Siemens Healthineers spielten keine Rolle?
Absolut nicht. Die strategische Einordnung von Geschäften hat mit den Zielbildern zu tun, wie sich dieses Unternehmen weiterentwickeln soll. Da passt kein Blatt Papier zwischen Roland und mich. Einzelne Aspekte mag man unterschiedlich beurteilen. Schließlich ist ein CEO eher ein Gestalter und ein CFO eher ein „Ordnungshüter“. Irgendwann muss dann entschieden werden. Der Vorstand hat dies getan, und der Aufsichtsrat hat einstimmig ebenso entschieden.
Warum kündigt Siemens die Trennung von Siemens Healthineers jetzt an?
Es hätte nichts dagegen gesprochen, das Thema drei Monate früher oder später anzugehen. Grundsätzlich aber stehen wir aktuell mit Healthineers völlig anders da als beim Börsengang 2018.
Inwiefern?
Damals hatte die Medizintechnik im Siemens-Portfolio mit die höchste Bewertung, mit einem sehr stabilen Wachstumspfad und hoher Profitabilität von rund 18%. Der Rest von Siemens erreichte damals zusammen nicht einmal eine zweistellige Marge. Heute ist es eine andere Situation. Mit dem Siemens-Kerngeschäft nähern wir uns an einigen Stellen den 20%, und die Wachstumsgeschwindigkeit wird im digitalen Kern vielleicht einmal zweistellig.
Sie haben immer von Synergien zwischen Siemens und Healthineers gesprochen.
Es wäre tatsächlich wünschenswert gewesen, dass wir Kliniken als Healthineers-Kunden im Verbund mit der Siemens-Gebäudetechnik und anderen Produkten ausstatten. Übrigens: Wünschenswert auch für die Betreiber der Krankenhäuser, die eigentlich im Sinne des Kostenmanagements an einer höheren Effizienz interessiert sein müssten. Doch dies ist nicht in der Breite eingetreten. Die Ursachen reichen von Regulierung bis zur Fragmentierung des Gesundheitswesens.
Warum nimmt denn Med-Tech nicht zusätzlich Fahrt auf, so wie es die Software für die Industrie tut?
Im Siemens-Kerngeschäft fungiert die intelligente Datennutzung etwa über Künstliche Intelligenz als zusätzlicher Wachstumsbeschleuniger. Sie skaliert nach globalen Regeln. Wenn wir etwa KI auf unser Automatisierungstechnikprodukt Simatic anwenden, dann können wir dies in China ebenso wie in Indien oder in den USA – überall nach dem gleichen Muster, weil es ein privatwirtschaftlich reguliertes Umfeld ist.
Und wie sieht es bei Healthineers aus?
In der Med-Tech-Welt werden viel weniger Produkte gefertigt, die fragmentierte Regulatorik weltweit verstärkt eher den Druck zu kleineren Marktstrukturen. Geopolitik ist aktuell zusätzlich ein Faktor.
Besteht die Gefahr, dass Siemens in konjunkturellen Schwächeperioden instabiler wird, weil Healthineers als stabilisierender Faktor entfällt?
Hier ist wichtig im Hinterkopf zu behalten, dass sich Siemens in den letzten Jahren deutlich in Richtung digitaler Geschäfte weiterentwickelt hat, die ihrer Natur nach wesentlich resilienter sind. Stabilität kann man auch erreichen, indem man sich rechtzeitig noch besser auf Marktveränderungen einstellt.
Ist dies machbar im Siemens-Kerngeschäft?
Es wird natürlich niemals zu 100% gelingen. Aber wenn man sich anschaut, wie es andere machen, dann denke ich: Wenn die es können, müssen wir es mindestens genauso gut können. Die Umstellung auf ein Abomodell für viele Softwareprodukte beispielsweise verschafft uns deutlich mehr Resilienz. Ich glaube also nicht, dass Stabilität synonym gesetzt werden darf mit Diversifikation.
Diversifikation ist ja sowieso out.
Aus gutem Grund. Früher galt als risikoarm, wer diversifiziert war. Das hat sich mit dem durch die Globalisierung ausgelösten, nahezu ubiquitären Marktzugang geändert. Außerdem sind die Unterschiede im Finanzierungspotenzial nicht mehr so groß wie früher. Der Marktzugang diversifizierter Unternehmen ist zudem nicht so gut wie von Spezialisten, sogenannten Pure-Plays. Darüber hinaus ist die Plattformökonomie gnadenlos: Der Gewinner nimmt sich den Großteil vom Kuchen. Letztlich sagen die Investoren: Wenn es eine Diversifikationsaufgabe gäbe, dann sind wir es, die das am besten können, nämlich als Kapitalmarkt. Das muss man respektieren.
Warum wählen Sie den unerprobten Weg einer Direktabspaltung für Siemens Healthineers?
Es gibt nicht viele attraktive Alternativen. Eine Sachdividende wäre mit sehr vielen steuerlichen Unsicherheiten verbunden. Beim Verkauf eines großen Pakets macht man sehr viel Druck auf den Aktienkurs, und es ist teuer in der Umsetzung. Ein Abverkauf über 15 Jahre ist auch keine Lösung. Das Quantum, das hier zu bewältigen ist, wäre dafür zu groß.
Daher der Griff nach dem Umwandlungsgesetz.
Tatsächlich ist dies der klarste und eleganteste Weg. Healthineers gehört ja faktisch bereits unseren Anteilseignern, indirekt über unsere Bilanz. Das Umwandlungsgesetz ermöglicht es, unseren Aktionären unmittelbar Healthineers-Aktien zukommen zu lassen. Natürlich müssen auch alle Facetten einer solchen Struktur im Detail geprüft und geklärt werden.
Welcher Auffassung sind die Juristen?
Wir haben gefühlt mit fast allen Juristen geredet, die etwas von der Materie verstehen. Auch auf der Steuerseite sind wir informiert. Trotzdem ist es ein Fall, den es in dieser Form in Deutschland noch nicht gab. Deshalb muss man respektvoll mit den Erkenntnisprozessen auch bei den Behörden umgehen und der Sache entsprechend Zeit geben.
Was ist der Plan B?
Wenn die Direktabspaltung nicht klappt, gibt es verschiedene alternative, allerdings komplexere und unter Umständen langwierigere Strukturierungsmöglichkeiten, um das gewünschte Ziel zu erreichen.
Die Investoren befürchten eine steuerliche Belastung.
Investoren machen sich natürlich Gedanken, dass wir etwas tun könnten, das bei ihnen hohe Steuerzahlungen auslöst. Wer Aktien eingebucht bekommt und dann einen Steuerbescheid erhält, muss entweder einen Teil der Papiere verkaufen oder aus einer anderen Quelle Liquidität beisteuern, um die Aktien zu behalten. Das mögen Investoren, auch Kleinanleger nicht. Das verstehe ich.
Wie ist es im Fall einer Direktabspaltung?
Dort liegen nicht alle Fäden in unserer Hand. Zuständig sind die depotführenden Banken und Finanzämter. Meine Erfahrung in dieser Hinsicht ist bislang sehr positiv. Wenn man aber versucht, Regulatorik zu beschleunigen, schneidet man sich oft ins eigene Fleisch. Es ist außerdem respektlos gegenüber dem Souverän. Angesicht der Materialität des Themas kommt es nicht auf einen Monat oder zwei Monate an.
Welche Größenordnung wird der Dekonsolidierungsgewinn für Siemens erreichen?
Er ist hoch. Sehr hoch.
Sehr hoch ist wohl mehr als ein einstelliger Milliardenbetrag.
Ja, aber ein Spekulieren macht jetzt wirklich keinen Sinn. Es ist auf jeden Fall so: Die Größenordnung des Buchgewinns emanzipiert uns vom Nachdenken, ob das eine gute Idee ist oder nicht, wenn man es auf dieses Thema konzentrieren würde.
Die Bahntechnik soll im Portfolio bleiben, obwohl sie teils ja wie das Med-Tech-Geschäft auch eine Kleinserienproduktion ist.
Natürlich gilt für die Sparte Mobility das, was für alle gilt: Man muss mit dem eingesetzten Kapital eine Rendite erwirtschaften. Insofern ist das Profitabilitätsniveau auf den ersten Blick nicht das, was wir wollen. Aber Mobility beansprucht wenig Kapital und liefert sehr kontinuierlich Cash Flows. Mobility ist ein wesentlicher Teil unseres synergetischen Kernportfolios.
Die quartalsweise Zuordnung des Mittelzuflusses gelingt nicht immer.
Aber auf eine jährliche oder noch längere Sicht ist das ganz klar: In letzten zwölf Jahren erreichte Mobility 9,9 Mrd. Euro Cashflow aus gut 10 Mrd. Euro Gewinn. Das Geld, das in der Gewinn- und Verlustrechnung erwirtschaftet wird, kommt verlässlich bei uns in der Kasse an. Ich sehe die Bahntechnik übrigens nicht als Kleinserienproduktion, sondern als Systemgeschäft das zunehmend auf Plattformen basiert. Dies ist ein Unterschied.
Die Lokomotiven werden doch in kleinsten Serien gefertigt.
Da will ich nicht grundsätzlich widersprechen. Aber unsere modulare europäische Vectron Lokomotive ist zum Beispiel mit über 2.800 verkauften Einheiten stark nachgefragt mit einem digital optimierten Lebenszykluskonzept von der Entwicklung bis zum langfristigen Betrieb und Service. Und an diesem gar nicht so kleinen Kleinseriengeschäft hängt das hochattraktive Automatisierungs- und Signalgeschäft. Dort liegen enorme Produktivitätspotenziale für die Betreiber von Bahnwesen. Beispielsweise ist die Erhöhung des Durchsatzes in der Nutzung einer U-Bahn faktisch vor allem intelligentes Datenmanagement. Aus Siemens-Sicht spielt dabei der Einsatz global skalierbarer Künstlicher Intelligenz eine viel größere Rolle als in der Medizintechnik.
Das Interview führte Michael Flämig.
