Quartalszahlen

Für Siemens hängt der Himmel voller Geigen

Die Kunden rennen Siemens die Bude ein. Der Konzern hat den Auftragseingang im ersten Quartal um fast die Hälfte erhöht. Die Münchner platzieren sich bei den Investoren zunehmend als Wachstumswert.

Für Siemens hängt der Himmel voller Geigen

mic München

Man sollte vorsichtig sein mit dem Ausdruck „historisch“. Aber das erste Quartal des Geschäftsjahres (30. September) hat das Zeug, in die Geschichtsbücher von Siemens einzugehen. Die Kunden reißen dem Münchner Konzern die Produkte und Dienstleistungen förmlich aus der Hand.

Der Auftragseingang stieg im ersten Quartal auf vergleichbarer Basis um 42% auf 24,2 Mrd. Euro, in der Kernsparte Digital Industries betrug das Plus sogar 67%. Das Verhältnis von Auftragseingang zu Umsatz stieg auf 1,47. Dies ist sensationell. Wie ist dieser Schwung zu bewerten?

Wichtig ist: Der Ansturm ist nicht einem Sondereffekt in einer Region wie beispielsweise Asien geschuldet, sondern ein weltweites Phänomen. Dies zeigt der Blick in die Details des Zahlenwerks. Beispielsweise erhöhte sich im Automatisierungsgeschäft der Sparte Digital Industries der Auftragseingang in China zwar um 78%. Aber Deutschland kommt mit 62% nahe an diesen Wert heran, und Italien liegt mit 155% sogar weit darüber.

An erster Stelle ist trotzdem Vorsicht angesagt. Kein Mensch weiß, wie stark die Unsicherheiten die Siemens-Kunden treiben. Auf jeden Fall gibt es vorgezogene Bestellungen. Dies ist auch rational. Erstens müssen die Abnehmer mit verlängerten Lieferzeiten rechnen. Zweitens erwarten sie Preiserhöhungen. Also wird ein Auftragsvolumen auf diesem Niveau nicht von Dauer sein. Ebenfalls wichtig: Im Software-Geschäft sind Umsatzausfälle zu erwarten, weil das Geschäftsmodell auf Abos umgestellt wird.

Trotzdem: Die Order sind ein Asset, mit dem Siemens in den kommenden Quartalen wuchern kann. Der Auftragsbestand alleine bei Digital Industries beträgt mehr als 10 Mrd. Euro. Die zweite Kernsparte Infrastructure ist ebenfalls vielversprechend unterwegs. Der Auftragseingang stieg um 26%, weil Betreiber und Rechenzentren und Industrie-Kunden zahlreiche Elektronische Produkte benötigen.

Ein Indiz, dass Siemens das Orderbuch auch in zählbares Geschäft ummünzen kann, ist das Wachstum des vergleichbaren Umsatzes im ersten Quartal. Das Plus von 9% kann sich sehen lassen – zumal im Vorjahresquartal schon ein Plus von 7% erreicht worden ist, also ein anspruchsvolles Vergleichsniveau existiert. Insbesondere die Sparte Digital Industries kommt sehr gut voran, die Erlöse legten um 11% zu. Regional gesehen ist Deutschland das Zugpferd für den Gesamtkonzern mit einem vergleichbaren Umsatzwachstum von 18%.

Das hohe Wachstum ist aus zweierlei Gründen relevant. Erstens nimmt Siemens der Konkurrenz im Kerngeschäft Digital Industries zunehmend Marktanteile weg. Der Konzern kann seine Größenvorteile gegenüber den kleineren Wettbewerbern voll ausspielen. Im vergangenen Geschäftsjahr hat die Siemens-Sparte mit einem organischen Umsatzplus von 13% die Konkurrenten Schneider (9% in Industrial Automation), Dassault Systemes (8%), Rockwell Automation (7%) sowie (2% in den relevanten Sparten) weit übertroffen, hat die Research-Abteilung der Deutschen Bank errechnet. Auch die zukünftigen Wachstumspläne der Münchner sind teils ambitionierter als jene der Konkurrenten. Das erste Quartal unterstreicht, dass dieses Vorhaben realistisch ist.

Der zweite Grund für die Relevanz der Erlösdynamik: Siemens versucht, sich bei den Investoren als Wachstumswert zu platzieren. Damit dies gelingt, muss möglichst kontinuierlich ein Wachstum präsentiert werden. Auf diesem Weg könnte den Bewertungsabschlag, den Siemens noch immer erleidet, ausradiert werden. Der Verkauf des das Post- und Paketgeschäfts und die Trennung von Valeo Siemens mindern die Anmutung eines Konglomerats weiter.

Allerdings gilt auch: Wer zu viel Schwung hat, der droht aus der Kurve zu fliegen. Analysten hatten nach dem vierten Quartal des vergangenen Geschäftsjahres zu Recht bemängelt, dass der Konzern die Margenerwartungen der Marktbeobachter in allen Segmenten nicht erreichen konnte.

Das erste Quartal bietet ein völlig anderes Bild. Die Ergebnismarge im industriellen Geschäft betrug 15,7%. Zwar waren im Vorjahresquartal noch 16,5% gemeldet worden. Aber die angekündigten Aufwendungen für die Umstellung von Teilen des Software-Geschäft auf ein Abomodell drücken nun voll auf die Renditen. Weil der Konzern in Cloud-Technologien investierte, drückte dies die Marge von Digital Industries von Oktober bis Dezember um 1,3 Prozentpunkte. Vor diesem Hintergrund ist die Marge angesichts der Pandemie-Umstände sehr gut. Die Erwartungen der Analysten wurden deutlich übertroffen.

Die Cloud-Ausgaben dürften im Geschäftsjahresverlauf zwar steigen. Außerdem drücken auch Siemens an der einen oder anderen Stelle die angespannten Lieferketten. Trotzdem sind die Aussichten rosig. Ein Indiz: Im Jahresverlauf wird Siemens die höheren Materialpreise im Produktgeschäft, die in den vergangenen Monaten aufliefen, unter anderem mit höheren Absatzpreisen kompensieren können.

Der Konzern ist damit auf dem besten Weg, das obere Ende seiner Zielbandbreite für das Ergebnis je Aktie – gerechnet ohne Effekte aus der Kaufpreisallokation – von 8,70 bis 9,10 Euro zu erreichen. Vielleicht wird sogar mehr abgeliefert werden. Der Himmel hängt momentan voller Geigen für Siemens. Nun kommt es auf die operative Umsetzung an.

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