Handel

Revolution durch den digitalen Einzelhandel

Für eine Weile fühlte sich E-Commerce ziemlich langweilig an. Sicher, seit seiner Gründung in den neunziger Jahren befindet er sich sowohl in relativen als auch in absoluten Zahlen auf einem stetigen Wachstumspfad. Im Vergleich zum stationären...

Revolution durch den digitalen Einzelhandel

Für eine Weile fühlte sich E-Commerce ziemlich langweilig an. Sicher, seit seiner Gründung in den neunziger Jahren befindet er sich sowohl in relativen als auch in absoluten Zahlen auf einem stetigen Wachstumspfad. Im Vergleich zum stationären Handel insgesamt blieb der digitale Handel jedoch ein Nischengeschäft, wie es sein Vorgänger – der Versandhandel – immer gewesen war. Es brauchte eine Pandemie, um das Bild zu ändern.

Plötzlich sieht es so aus, als ob der digitale Handel bald das dominierende Handelsmodell sein könnte. Wer den Dotcom-Wahn der späten neunziger Jahre erlebt hat, erinnert sich vielleicht noch an eine Zeit, in der diese kurzfristige Erwartung eher verbreitet war. Das Platzen der Blase und dann der 11. September verzögerten die Entwicklung, konnten sie aber nicht aufhalten, wie wir jetzt sehen können.

Erst allmählich und dann plötzlich expandiert der E-Commerce in alle Richtungen: Direct-to-Consumer (DTC) und neue Branchen, das heißt vertikale und horizontale Integration gleichzeitig. Nicht zu vergessen das Wachstum in allen Kategorien. Software ist im Begriff, die Welt des Einzelhandels zu erobern, und wenn sie fertig ist, bleiben nur noch Handelsfragen und keine technischen Fragen.

Der Einzelhandel ist ein großes Geschäft – mit einem Volumen von weltweit über 20 Bill. Dollar. Laut Emarketer stieg der E-Commerce-Umsatz im Einzelhandel im Jahr 2020 um 27,6% auf 4,28 Bill. Dollar oder 18% des weltweiten Einzelhandels. Bis 2024 wird der E-Commerce voraussichtlich 6,388 Bill. Dollar oder 21,8% des weltweiten Einzelhandels erreichen. Dies ist eine konservative Prognose unter der Annahme einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate (CAGR) von 10,5% – weit weniger als der große Sprung im Jahr 2020. Von 2015 bis 2019 lag die CAGR bereits bei 17,5%.

Vielleicht noch wichtiger als diese Zahlen ist die Tatsache, dass die Lebensmittel- und Getränkeindustrie onlinegeht. Schon vor der Pandemie war es in den USA das am schnellsten wachsende Segment des E-Commerce, mit einem Umsatz von mehr als 22 Mrd. Dollar und Wachstumsraten von über 20% im Jahr 2019. Digitale Lebensmittelkäufer machten 2020 schon 47,8% der US-Bevölkerung aus, und diese Zahl wird bis 2022 die Schwelle von 50% überschreiten.

Cloud-Küchen

Vor allem die Generation Z und Millennials fühlen sich mittlerweile wohl dabei, ihre Lebensmitteleinkäufe online zu erledigen, und 45% aller Verbraucher geben an, dass sie dies bevorzugen. Das Wachstum dieses Segments wird derzeit durch den Zeit- und Arbeitsaufwand für den Aufbau einer völlig neuen Logistikkette begrenzt, während das Kapitalangebot und die Verbrauchernachfrage praktisch unbegrenzt sind. Das Verbraucherverhalten hat sich dauerhaft geändert. Die Nachfrage wartet darauf, dass das Angebot aufholt.

Es geht jedoch nicht nur um Lebensmittel, sondern auch um die Lieferung von Mahlzeiten. Vor der Pandemie gaben die Menschen in den USA mehr Geld für Essen außerhalb der Wohnung aus als für Lebensmittel zu Hause. Die Lockdowns haben das Verhältnis umgekehrt, aber die Cloud-Küchen – früher als Restaurants bekannt – haben einen Teil der Verlagerung nach Hause aufgefangen. Sowohl Lebensmittel als auch die Lieferung von Mahlzeiten werden von der nächsten Automatisierungsrunde profitieren.

Direct-to-Consumer boomt

Diese horizontale Ausweitung des digitalen Handels ist bereits interessant genug. Was die Dinge spannend macht, ist ein weiterer, orthogonaler Trend: Direct-to-Consumer, auch vertikale Integration genannt. Immer mehr Marken verkaufen direkt an den Verbraucher und umgehen den traditionellen Einzelhandel. Überall entstehen neue DTC-Mar­ken, und Einzelhändler beziehen ihre eigenen Handelsmarken. Das ist an sich nichts Neues, aber das schnelle Wachstum ist neu.

So wird der stationäre Handel digital und der digitale Einzelhandel erweitert sich über den Rahmen des traditionellen Handels hinaus. Dies geschieht einfach, weil es das überlegene Modell in Sachen Kundenerlebnis und Effizienz ist. Dadurch entsteht ein Schwungrad: Eine höhere Effizienz ermöglicht ein noch besseres Kundenerlebnis und damit mehr Wachstum, Skaleneffekte und noch mehr Effizienz. Dieser starke Trend beschränkt sich nicht nur auf Amazon oder Apple (das einen riesigen DTC-Detailhandelszweig hat, sowohl physisch als auch digital). Shopify ermöglicht DTC für alle.

Apple und Amazon unterstreichen auch einen weiteren Aspekt der Handelsrevolution: Zur Zukunft des Einzelhandels gehören auch physische Geschäfte. Diese sind eng in das gesamte Kundenerlebnis integriert, geschickt digitalisiert, fungieren als Ausstellungsräume, die über den einfachen Verkauf hinausgehen, und bieten einen hervorragenden Service. Denken wir an Apples Genius Bar, aber auch an Amazon mit Whole Foods, Buchhandlungen und Lebensmittelgeschäften. Es geht wieder einmal um ein Ökosystem. Die Tatsache, dass Digitalhandel das dominierende Handelsmodell ist, bedeutet nicht, dass es keine physischen Geschäfte mehr gibt. Es ist nur so, dass sie sich komplett verändern.

Hohe Erlöse im Apple-Store

Interessanterweise erzielt Apple in seinen physischen Läden himmelhohe Umsätze pro Quadratmeter. Es hilft sicherlich, dass Apple hochpreisige Produkte, manche würden sagen: Luxusartikel, verkauft. Aber Apple hat den Umsatz gesteigert, indem es seine Geschäfte als Showrooms gestaltet hat. Das Unternehmen muss nicht über die Stores verkaufen, und das sieht man.

Seit einiger Zeit gibt es einen Trend zum Showrooming – und zu dessen Gegenteil, dem Webrooming. Einzelhändler müssen sich nicht vor diesem Trend fürchten, wenn sie ihre physischen und digitalen Geschäfte eng integrieren. Der Großteil des Einzelhandels hat eine physische Komponente: ein physisches Gut, das vom Inventar zum Verbraucher gelangen muss. Während Produktrecherche und -suche schon früh online gingen, möchten Verbraucher Produkte vor dem Kauf immer noch sehen und anfassen. Und sie mögen die sofortige Befriedigung, das Produkt mitzunehmen.

Die Pandemie hat jedoch das Gleichgewicht in Richtung Lieferung gekippt. Die Zukunft ist digital first, reibungslos und kontaktlos. Inzwischen sehen wir einen aufkommenden Trend zur sofortigen Lieferung (Instacart, Gorillas), oft innerhalb von Minuten. Wenn die Menschen genau wissen, was sie wollen und es schnell brauchen, warum warten oder in ein Geschäft gehen, um es abzuholen?

Ein perfekter Sturm

Für Konsumgüter (CPG) ist dies alles ein perfekter Sturm. Ihr traditionelles Wachstumsmodell ist veraltet. Ihr Hauptvertriebskanal – der Einzelhandel – wird digital und verändert sich schnell. DTC ist für sie sowohl ein Segen als auch ein Fluch. Es eröffnet neue Kanäle, ermöglicht aber auch viel mehr Wettbewerb. CPG-Un­ternehmen konkurrieren plötzlich gleichzeitig mit Einzelhändlern und mit DTC. Im Consumer-Bereich konkurriert jeder mit jedem.

Dies war das ursprüngliche Versprechen des Internets, und es sieht so aus, als ob es wahr wird. Werden wir einen entsprechenden Trend zu globalen Oligopolen sehen, wie bei Big Tech? Bisher war das Gegenteil der Fall: Handelsmarken und kleine Unternehmen waren Wachstumstreiber, während die großen Konsumgüterhersteller einen Rückgang ihres Marktanteils verzeichneten. Die 20 größten CPG-Unternehmen werden in den nächsten fünf Jahren voraussichtlich fünfmal langsamer wachsen als ihre kleineren Wettbewerber. Schätzungen zufolge stammen zwei Drittel des globalen Marktwachstums im selben Zeitraum aus dem elektronischen Handel.

Klingt ganz nach einer Revolution.

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.