Georg Müller,Brenntag

„Wir haben im vergangenen Jahr gute Margen erzielt“

Organisch sind wir in den vergangenen drei bis vier Jahren kaum gewachsen. Daher steht die Transformation unter dem Blickwinkel, eine nachhaltige Basis für die Rückkehr zu organischem Ergebniswachstum zu schaffen.

„Wir haben im vergangenen Jahr gute Margen erzielt“

Annette Becker.

Herr Müller, ausweislich der bislang vorgelegten Zahlen für 2020 ist Brenntag von der Coronakrise kaum beeinträchtigt. Woran liegt das?

Die Coronakrise hat natürlich auch uns im vorigen Jahr viel beschäftigt. Die Sicherheit von Mitarbeitern und Geschäftspartnern kommt dabei immer zuerst. Daher haben wir zum Beispiel Prozessabläufe umfangreich umgestellt, um ein sicheres Arbeiten zu gewährleisten. Auch dadurch ist es uns gelungen, den Betrieb nahezu vollständig aufrechtzuhalten. Es gab lediglich dort Einschränkungen, wo der Lockdown wie in Indien extrem hart ausfiel. Auch die Lieferketten konnten wir aufrechthalten, dadurch konnten wir jederzeit Produktverfügbarkeit sicherstellen. Das ist der erste Teil der Antwort, warum wir finanziell von der Covid-19-Krise so gut wie nicht betroffen waren. Darüber hinaus ist das Geschäft widerstandsfähig, unter anderem weil wir weltweit und in vielen Kunden- und Produktgruppen unterwegs sind. In der Breite waren die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen gar nicht so groß.

Die Lieferketten waren zu Beginn der Krise das A und O. Alle trieb die Frage um, ob sie halten oder reißen. Ist Brenntag als wichtiger Bestandteil der Lieferketten an dieser Stelle ein Krisengewinner, zumal die Preise eine nachgeordnete Rolle gespielt haben, solange geliefert wurde?

Der Begriff Krisengewinner ist mir zu negativ belegt. Es gab in vielen Ländern essenzielle Industrien, die auch im Lockdown weiterarbeiten durften. Wir haben in allen Ländern zu den systemrelevanten Betrieben gehört, weil wir auch einen Versorgungsauftrag haben. Es ist richtig, dass wir im vergangenen Jahr gute Margen erzielt haben. Dennoch steht im Vordergrund, dass wir lieferfähig waren. Die Zuverlässigkeit hat der Markt honoriert.

Brenntag hat im Herbst ein umfangreiches Transformationsprogramm vorgestellt. Seit Beginn dieses Jahres arbeiten Sie in der neuen Struktur. Was heißt das konkret und welche Idee steckt dahinter?

Bevor wir zum Transformationsprogramm kommen lassen Sie mich kurz die Ausgangssituation darstellen: Brenntag ist ein sehr erfolgreiches Unternehmen. Im Jahr 2009, dem Jahr vor dem Börsengang, lag das operative Ergebnis vor Abschreibungen bei 476 Mill. Euro. Bis 2019 hatten wir den Wert auf gut 1 Mrd. Euro mehr als verdoppelt. Und auch wenn die Ergebnisse noch nicht vorliegen, lässt sich sagen, dass wir das Ergebnis 2020 nochmals verbessern werden – zumindest auf Basis unserer im September veröffentlichen Prognose. Allerdings ist die Organisation komplex geworden, lief das Wachstum doch vornehmlich über Akquisitionen. Organisch sind wir in den vergangenen drei bis vier Jahren da­gegen kaum gewachsen. Das aber ist unser Anspruch als Weltmarktführer, zumal der Markt es auch hergibt. Daher steht die Transformation unter dem Blickwinkel, eine nachhaltige Basis für die Rückkehr zu organischem Ergebniswachstum zu schaffen.

Wo setzen Sie dabei an?

Zum einen geht es darum, die Komplexität der Organisation zurückzuführen und zum anderen, die Marktansprache differenzierter zu gestalten. Historisch bedingt ist Brenntag sehr regional aufgestellt. Wir haben starke regionale Einheiten, dadurch aber auch eine gewisse Heterogenität zwischen den Ländern. Zudem haben wir bis zu einem gewissen Grad einen One-size-fits-all-Ansatz verfolgt. Die Ansprüche des Marktes haben sich aber sowohl auf der Kunden- als auch auf der Lieferantenseite weiterentwickelt. Daher ist jetzt die Zeit gekommen, die Kunden und Lieferanten differenzierter anzusprechen.

Wie macht man das?

Zu Beginn des vorherigen Jahres haben wir analysiert, wie man die Marktansprache verbessert. In der zweiten Jahreshälfte haben wir die Implementierung geplant und vorbereitet, seit Jahresbeginn sind wir in der Umsetzung. Um die Marktansprache zu verbessern, wollen wir mit unseren zwei neuen Geschäftsbereichen künftig stärker zwischen Essentials und Specialties trennen und weniger nach Regionen.

Was verbirgt sich hinter den beiden neuen Segmenten?

Brenntag Essentials ist im Wesentlichen der Vertrieb von Industriechemikalien.

Also Basischemikalien.

Ich verwende lieber den Begriff der Industriechemikalien. Denn auch wenn es eingeführte, bekannte Produkte sind, liefern wir in der Regel in kleinen Mengen. Basischemie wird oft mit Großmengenlieferungen gleichgesetzt. Das ist in aller Regel aber nicht das Geschäft des Distributeurs. Aber sie haben insoweit recht, als es sich um standardisierte Produkte handelt, die an zahlreiche Industriegruppen gehen. Im Spezialchemikaliengeschäft, also bei Brenntag Specialties, konzentrieren wir uns auf sechs Kundenindustrien, die einen hohen Lösungsanspruch und komplexe Anforderungen haben und die vom Distributeur hohes technisches Know-how und vielfältige Anwendungsexpertise erwarten.

Wie teilt sich das Portfolio zwischen den beiden Segmenten auf?

Die Größenordnung nach Umsatz zwischen Essentials und Specialties liegt etwa bei 60 zu 40. Bei den Industriechemikalien kommt es auf lokale Präsenz, hohe Verfügbarkeit und sicheres Handling an sowie auf Kosteneffizienz und Schnelligkeit. Im Spezialchemikaliengeschäft ist die Logistik und die Preiseffizienz dagegen weniger relevant, hier sind hohes Anwendungs-Know-how und tief gehende Marktkenntnis entscheidend. Das gilt nicht nur in der Beziehung zum Kunden, sondern ist auch wichtig, um Lieferantenbeziehungen aufzubauen und auszuweiten. Wir müssen dem Lieferanten zeigen, dass wir den Markt kennen und Kundenbedürfnisse bedienen können. Das ist die Idee hinter den beiden Geschäftsbereichen. Wir werden im ersten Quartal erstmals in der neuen Struktur berichten und kommen damit dem Wunsch des Kapitalmarkts nach mehr Transparenz nach.

Warum stellen Sie sich nicht nach Branchen auf?

Im Specialties-Geschäft machen wir das. Wir haben sechs Kundenindustrien definiert, die weltweit eine hohe Homogenität aufweisen, so dass wir die Sales Teams nach Branchen aufstellen. Jede Branche hat ihre typischen Produkte. Im Bereich Essentials braucht man das nicht, weil die Produkte über die Kundenindustrien hinweg sehr standardisiert sind.

Haben Sie im Zuge der Analyse auch erwogen, sich aus einzelnen Branchen zurückzuziehen? Spontan denke ich dabei an die Öl- und Gasindustrie in den USA, die für Brenntag seit Jahren ein Sorgenkind ist. Auch nach vorne geblickt scheint es – gerade vor dem Hintergrund der Biden-Administration – kaum besser zu werden.

Wir arbeiten in allen Kundenindustrien profitabel, so dass es für den Rückzug aus einzelnen Industrien keinen Grund gibt. Aber natürlich konzentrieren wir uns im Bereich Specialties ganz bewusst auf Kundenindustrien, in denen wir besonders stark sind und die wir aufgrund der Größe, der Wachstumsdynamik und des hohen Beratungsbedarfs als besonders interessant erachten. Der Nachteil am Öl- und Gasgeschäft, das etwa ein Viertel unseres US-Umsatzes ausmacht, ist die hohe Volatilität. Auch die Wachstumsaussichten sind sicherlich fraglich. Dennoch war das Öl- und Gasgeschäft zu jeder Zeit profitabel und hat positive Cash-flows generiert, auch im Krisenjahr 2020.

Das Transformationsprogramm soll bis 2023 Einsparungen von 220 Mill. Euro bringen. Dafür werden 8 % der Arbeitsplätze abgebaut. Ist das nicht ausgesprochen viel für ein Unternehmen, das sich als erfolgreich bezeichnet? Ein solch umfangreicher Stellenabbau findet sich doch eher bei Unternehmen, die ernsthafte Probleme haben.

Der geplante Stellenabbau ist sicherlich der schwierigste und schmerzhafteste Teil von Project Brenntag.

Und sicherlich auch am schwierigsten zu kommunizieren.

Ja, das ist so. Bevor ich auf die Frage nach dem Warum eingehe, möchte ich betonen, dass wir jeglichen geplanten Stellenabbau so sozialverträglich und verantwortungsvoll wie möglich gestalten wollen. Da wir bis 2023 Zeit haben, bin ich zuversichtlich, dass wir das ohne betriebsbedingte Kündigungen hinbekommen. Warum ist das erforderlich? Weil die Organisation sehr komplex ist. Wir sind akquisitorisch gewachsen und haben dabei sicher nicht immer alle Hausaufgaben erledigt. Das muss jetzt nachgeholt werden.

Heißt das im Umkehrschluss, dass Brenntag jetzt stärker zentralisiert wird?

Es ist richtig, dass wir über die starke regionale Aufstellung in der Vergangenheit manche Doppelung in der Struktur haben, die aus heutiger Sicht wenig effizient ist. Insofern haben wir uns vorgenommen, stärker zu harmonisieren und zu standardisieren. Das wird auch dazu führen, dass wir manche Funktionen zusammenfassen. Das Wort Zentralisierung würde ich allerdings nicht in den Vordergrund stellen, denn das impliziert häufig eine gewisse Marktferne. Wir werden sicher nicht die Nähe zu unseren Märkten verlieren, das kann man sich in der Chemiedistribution nicht erlauben.

Sind die Regionen so unterschiedlich, dass eine zentrale Marktansprache nicht möglich ist?

Gleich und unterschiedlich sind die falschen Begriffe. Marktansprache hat etwas mit Schnelligkeit zu tun. Schnell kann man nur mit einem Team vor Ort sein, das auch Entscheidungsbefugnis hat. Nicht jede Entscheidung über eine Liefer- oder Preiszusage lässt sich in Essen treffen. Lokale Entscheidungs- und Umsetzungsfähigkeit ist durchaus relevant.

Sie lassen sich das Programm 370 Mill. Euro kosten. Wie verteilt sich der Aufwand auf die einzelnen Jahre und werden Sie schon 2020 Belastungen schultern?

Das ist ein hoher Betrag, der unterstreicht, wie wesentlich das Programm ist. Die 370 Mill. Euro sind aber nicht nur Aufwand, sondern enthalten auch Investitionen. Zwei Drittel sind Aufwand im Sinne von Abfindungszahlungen und IT- und Berateraufwand. Ein Drittel sind Investitionen, im Wesentlichen in unser globales Standortnetzwerk. 2020 werden wir schon einen kleinen Teil verbuchen. Der überproportionale Teil wird jedoch in diesem Jahr anfallen, 2022 und 2023 folgen nochmals kleinere Beträge. Die genaue Aufteilung hängt natürlich davon ab, wie schnell die einzelnen Maßnahmen ins Werk gesetzt werden.

Sie reservieren ein Drittel des Betrags für Investitionen ins Standortnetz. Zugleich haben Sie die Schließung von 100 Standorten angekündigt. Wie passt das zusammen?

Wir betreiben weltweit etwa 700 Standorte in einem ganz heterogenen Portfolio aus großen und kleinen eigenen Standorten, Logistikstandorten und Standorten, die Dritte für uns betreiben. Das Standortnetz hat sich über die zahlreichen Akquisitionen aufgebaut. Hier sind wir wieder beim Stichwort unerledigte Hausaufgaben. Wir haben die Schließung von 100 Standorten beschlossen, das sind rund 14 %. Betroffen sind zu einem guten Teil kleinere Standorte und Standorte, die von Dritten betrieben werden. Sie stehen für ein Geschäftsvolumen von 6 %. Aber wir sind auch bereit zu investieren. Wir wollen kleinere Standorte zu größeren, effizienteren zusammenfassen.

Wo sollen die Einsparungen herkommen? Wie setzen sich die 220 Mill. Euro zusammen?

Die nachhaltige Ergebnissteigerung von 220 Mill. Euro, die sich schrittweise aufbauen soll, setzt sich aus Kosteneinsparungen von 180 Mill. Euro und einem Rohertragszuwachs von 40 Mill. Euro zusammen. Bei Letzterem geht es in erster Linie um analytischere Werkzeuge bei der Preisstellung.

Was hat man sich darunter vorzustellen?

Da merzen wir Schwächen bei der Preisstellung aus der Vergangenheit aus. Ich gebe ein Beispiel: Wenn Sie 190 000 Kunden haben und in 77 Ländern tätig sind und ganz analytisch durch die Transaktionen gehen, lassen sich Fälle finden, in denen wir mit negativen oder ganz niedrigen Margen operieren. Das sind nicht viele, doch sie finden sich. Das kann passieren, wenn das EDV-Sys­tem bei der Preisstellung nicht richtig funktioniert oder wenn der Input von Marktdaten nicht sauber aufbereitet ist. Das lässt sich relativ leicht ausbügeln, bringt aber nennenswerte Beträge.

Wo kommen die Einsparungen her?

Die 180 Mill. Euro sind echte Kosteneinsparungen. Sie kommen zu gut der Hälfte aus dem Personalbereich. Weitere Einsparungen sehen wir in den Miet- und Leasingaufwendungen, die aus der Standortoptimierung kommen, und ein Teil entfällt auf Ausgaben jenseits des Chemikalieneinkaufs. Da geht es um Waren und Dienstleistungen im Wert von 1,2 Mrd. Euro, die dezentral eingekauft werden. Sprich: Wir haben unsere Größenvorteile bislang nicht genutzt. Hier ist das Wort Zentralisierung angebracht, denn wir wollen Einkaufsvolumina zusammenfassen.

Heißt das, Sie werden Toilettenpapier künftig zentral einkaufen?

Das ist ein schwieriges Beispiel. Man muss sich die Produktgruppen genau anschauen. Bei Toilettenpapier oder Büroausstattung ist es vielleicht nicht so sinnvoll wie bei Leasingfahr­zeugen, Verpackungsmaterial oder Transportdienstleistungen. Hier macht es einen Unterschied, wenn ein zentraler Rahmenvertrag mit zwei, drei großen Anbietern weltweit verhandelt wird.

Laut Programm wollen Sie den Rohertrag künftig aus eigener Kraft jährlich um 4 % und das bereinigte operative Ergebnis (Ebitda) um 4 bis 6 % jährlich steigern. Was heißt das für künftige Akquisitionen?

Wir stellen das organische Wachstum in den Vordergrund, weil wir hier Nachholbedarf haben. Akquisitionen haben wir in den letzten Jahren erfolgreich getätigt und wollen das auch nach vorn beibehalten. Ich würde erwarten, dass wir im Kern in der gleichen Größenordnung wie bisher mit 200 bis 250 Mill. Euro jährlich weitermarschieren. Allerdings werden wir den strategischen Blick schärfen. Themen wie Asien, Spezialchemikalien werden sich in den Akquisitionen künftig stärker finden als in der Vergangenheit. Eine erste nennenswerte Ak­quisition im Spezialitätenbereich in China haben wir kürzlich bekannt gegeben.

Wollen Sie das Verhältnis zwischen Essentials und Specialties auf längere Sicht ändern? Das Spezialitätengeschäft wirft doch sicher eine höhere Marge ab.

Die Antwort ist gar nicht so einfach. Das Essentials-Geschäft ist per se nicht weniger attraktiv als das Spezialitätengeschäft. Beide sind hochprofitabel und beide Segmente haben Wachstumspotenzial. Dennoch hat das Spezialitätengeschäft ein attraktiveres Margenbild und je nach Industrie ein attraktiveres Wachstumspotenzial. Insofern werden wir den Fokus in Zukunft etwas stärker auf Specialties lenken. Wenn ich das im Zusammenhang mit Akquisitionen anspreche, müssen wir weltweit ein stärker harmonisiertes Spezialchemiegeschäft anbieten und immer dort, wo wir noch nicht perfekt aufgestellt sind, können Akquisitionen helfen.

Der Anstoß zum Transformationsprogramm kam durch den Vorstandswechsel. Inwieweit steckten dahinter auch unzufriedene Investoren?

Von Unzufriedenheit möchte ich in diesem Kontext nicht reden. Ich bin ja auch für Investor Relations zuständig und kenne die Diskussionen im Kreis der Eigentümer. Es war stets anerkannt, dass wir über ein stabiles, cash-flow-starkes Geschäftsmodell verfügen und einen guten Track Record hinsichtlich Akquisitionen haben. Ich will aber auch nicht bestreiten, dass die Frage nach organischem Wachstum über die Zeit drängender gestellt wurde. Mit Project Brenntag haben wir jetzt eine gute Antwort auf die Frage. Die Resonanz auf unseren Kapitalmarkttag im vergangenen Herbst belegt das.

Wirkt sich das kostspielige Transformationsprogramm auf die Dividende aus?

Wir sind ein verlässlicher Dividendentitel. Seit der Börseneinführung 2010 haben wir die Dividende in jedem Jahr erhöht. Und auch wenn der Jahresabschluss noch nicht fertig ist, bin ich sehr zuversichtlich, dass wir auf dem Weg der Dividendenerhöhung weitergehen werden.

Das Interview führte

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