Harald Preißler, Bantleon

„Wir haben Inflation vor der Tür“

Die goldenen Zeiten an den Finanzmärkten neigen sich dem Ende zu, glaubt Harald Preißler. Der Aufsichtsrat des Assetmanagers Bantleon erwartet eine mittelfristig strukturell bedingt anziehende Inflation und rechnet als Folge mit allmählich anziehenden Zinsen.

„Wir haben Inflation vor der Tür“

Christopher Kalbhenn.

Herr Preißler, Aktien und andere Risikoassets sind seit dem Corona-Crash sehr stark gestiegen. Stehen goldene Zeiten bevor, so wie es der Höhenflug zu implizieren scheint?

Nach dem Pandemieschock haben wir eine Wiederauferstehung an den Finanzmärkten gesehen, die ihresgleichen sucht. Auch die steigende Zahl der Aktienanleger ist grundsätzlich erfreulich, Privatanleger interessieren sich wieder verstärkt für den Kapitalmarkt. Nur geschieht dies ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem wir uns am Ende eines goldenen Zeitalters an den Finanzmärkten, aber auch in der Realwirtschaft, befinden.

Warum endet es?

Wir stehen vor enormen strukturellen Umbrüchen, eine Tatsache, die momentan untergeht, weil wir uns fast ausschließlich mit Corona beschäftigen. Wir haben Inflation vor der Tür. Und ich meine damit nicht die normale zyklische Inflation, die wir immer in konjunkturellen Aufschwungsphasen erleben – das sind temporäre Faktoren. Was uns viel mehr Sorgen bereiten sollte, ist der langfristige Wandel im Inflationsklima. Wir sind an einem echten Scheidepunkt.

Welche Treiber werden zu einer strukturell bedingt höheren Inflation führen?

Zum Beispiel die Demografie. Die Babyboomer gehen in den nächsten Jahren in Rente, der Nachwuchs fehlt, weshalb wir eine massive Überalterung erfahren. Die Folge wird eine Knappheit an Arbeitskräften sein und damit wird es zwangsläufig ein deutlich höheres Lohnwachstum geben, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Mangeln wird es dabei längst nicht nur an Facharbeitern in der Industrie, betroffen sind alle Ebenen der Volkswirtschaft. Prominentes Beispiel sind die Pflegekräfte, von denen wir – auch wegen der unzureichenden Vergütung – zu wenige haben.

Steigt dann nicht die Staatsverschuldung noch weiter?

Die Staatsverschuldung wird ein weiterer Inflationstreiber sein, und das steht im Zusammenhang mit der demografischen Entwicklung. Sie macht mit Corona einen gewaltigen Sprung und wir werden sie wahrscheinlich nicht mehr abbauen können, weil wir einen wachsenden Anteil der Staatsausgaben für die Finanzierung der Sozialversicherungen aufwenden müssen. Der Anteil der über 65-jährigen an der Gesamtbevölkerung wird sich in Deutschland in den nächsten 30 Jahren auf 40% verdoppeln. Schon jetzt entfallen 30% des Bundeshaushaltes auf Zuschüsse zur Rentenversicherung – Tendenz massiv steigend. Auch dies ist ein Thema, das momentan nicht diskutiert wird. Die Folgen werden höhere Steuern, höhere Abgaben, geringere Leistungen und eine noch längere Lebensarbeitszeit sein. „70 plus“ wird mit großer Wahrscheinlichkeit die Normalität für unsere Kinder sein.

Als Preistreiber wird auch die Deglobalisierung angesehen. Wie wirkt sie Ihrer Einschätzung nach?

Viele Beobachter glauben, die Deglobalisierung sei mit dem Ende der Trump-Ära Vergangenheit. Allerdings ist das Phänomen schon vor Donald Trumps Präsidentschaft aufgetreten. Genauer seit 2008, als eine Folge der Finanzkrise. Seither ist eine zunehmende Tendenz hin zu Protektionismus und Abschottung zu beobachten. Hinzu kommt der Trend zur Renationalisierung von Produktionsprozessen, weil viele Unternehmen feststellen mussten, dass die globalen Lieferketten nicht zuverlässig genug sind. Das ist nicht erst seit Corona der Fall. Schon vorher gab es wiederholt Engpässe bei der Belieferung mit elektronischen Bauteilen und anderen Komponenten aufgrund von extremen Wetterereignissen oder Naturkatastrophen in Asien. Produktionsstandorte werden künftig nicht mehr primär unter Kostengesichtspunkten ausgewählt, sondern zunehmend nach der Stabilität der Wertschöpfungsketten. Der von dieser Seite seit dreißig Jahren wirkende deflationäre Effekt kehrt sich mithin um.

Treiben nicht auch die fiskalpolitischen Impulse – in den USA ist ein Hilfspaket in Höhe von 1,9 Bill. Dollar im Gespräch – die Inflation an?

Richtig, die Fiskalpolitik schwingt sich auf, eine völlig neue Rolle zu spielen. Die Geldpolitik stößt an die Grenzen ihrer Möglichkeiten, auch die rechtlichen. Sie hat in den vergangenen Jahren zwar eine unglaubliche Menge an Liquidität geschaffen, damit aber nur sehr überschaubare Effekte in der Realwirtschaft erzielt. Es verwundert daher nicht, dass der Ruf nach mehr fiskalischen Impulsen immer lauter wird. Hingegen gelten Austerität und die Tugenden der schwäbischen Hausfrau als aus der Zeit gefallen. Keynesianische Nachfragepolitik ist jetzt angesagt, und dabei sind die weltweiten Coronahilfen nur der Anfang. Die Investitionen für die Bekämpfung des Klimawandels sowie die Modernisierung der Infrastruktur sind weitere Beispiele. All das wird nicht nur zu stärkeren realwirtschaftlichen Ausschlägen, sondern auch zu höheren Inflationsraten führen – denken wir nur an die CO2-Steuern.

Auf was für Inflationsraten muss man sich einstellen?

Ich befürchte, dass wir uns nachhaltig über die berühmte 2-Prozent-Schwelle bewegen und durchaus auch mal wieder eine 4 oder sogar eine 5 vor dem Komma sehen werden. Damit einhergehend dürften auch die Schwankungen der In­flationsraten zunehmen – wir werden die lange Phase annähernder Preisstabilität noch schmerzlich vermissen.

Welche Folgen hat die wirtschaftspolitische Gemengelage für die Finanzmärkte?

Die enorme Geldmengenexpansion der Vergangenheit hat die Finanzmärkte massiv aufgebläht. Die Aktienmärkte sind so hoch bewertet wie selten zuvor, die Zinsen und die Risikoprämien haben Tiefstwerte erreicht, Immobilienpreise sind enorm gestiegen. Auch die Bitcoin-Hausse ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Diese Entwicklungen sind Ausdruck der verzweifelten Suche der Investoren nach auskömmlichen Renditen. Deswegen sehen wir auch diesen riesigen Run auf illiquide Assets wie nichtbörsennotierte Infrastruktur und Private Equity. Das alles sind die hochriskanten Folgen der derzeitigen Politik. Der Rausch wurde jahrelang mit immer höheren Dosen verlängert, aber irgendwann kommt das böse Erwachen.

Wird die Krise vielleicht ein Stück weit genutzt, um eine bestimmte Politik durchzusetzen?

Geld- und Fiskalpolitik stehen nicht mehr nebeneinander, sie haben eine Allianz geschmiedet. Die Notenbanken versuchen gar nicht mehr, die Konjunktur über die Banken zu stimulieren, sondern über die Fiskalpolitik. Es ist geradezu bezeichnend, dass die frühere Fed-Chefin Janet Yellen US-Finanzministerin geworden ist. Die Modern Monetary Theory, die man früher als akademische Spielerei belächelt hätte, avanciert zum neuen wirtschaftspolitischen Paradigma. Die Zentralbank druckt Geld für den Finanzminister, der es unmittelbar in die Wirtschaft pumpt, bis die Inflation auf Zielniveau ist. Winston Churchill verdanken wir das Bonmot, dass man niemals eine gute Krise verschwenden soll. In diesem Sinne bietet die Bekämpfung der Pandemiefolgen und des Klimawandels die Gelegenheit, die Bevölkerung an das neue Paradigma zu gewöhnen. Das anrüchige Image, das Staatsschulden früher hatten, ist jetzt schon weg. Schulden erhalten vielmehr eine moralische Dimension. Wer spricht sich schon gegen die Unterstützung von Coronageschädigten aus? Wir steuern auf ein völlig neues Umfeld in der Wirtschaftspolitik und an den Finanzmärkten zu. Wahrscheinlich stehen wir mit einem Fuß bereits mitten drin.

Das hört sich alles danach an, dass wir an den Finanzmärkten nicht vor goldenen, sondern eher un­erquicklichen Zeiten stehen.

An den Finanzmärkten ist schon jetzt alles extrem teuer, und viele rechtfertigen die Rekordbewertungen mit den tiefen Zinsen, die bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag nahe 0% bleiben werden. Ich befürchte hingegen, die Zinsen werden steigen, weil die Inflation steigt. Die Geldpolitik wird über kurz oder lang ihre schützende Hand von den Finanzmärkten wegziehen müssen, weil sie juristische Grenzen erreicht haben wird. Bei Inflations­raten von 3 bis 5% können die Zinsen nicht nahe der Nulllinie verharren. Sie werden dann ebenfalls anziehen und könnten beispielsweise für zehnjährige Bundesanleihen auf 3% steigen.

Manche bezweifeln dies und glauben, dass spürbar höhere Zinsen aufgrund der hohen Verschuldung nicht zugelassen werden wird.

Es gibt dieses Argument, dass die Zinsen nicht steigen können, weil die Staaten sich das nicht leisten könnten – weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Fakt ist jedoch: Solange die Zinsen nicht höher steigen als das nominelle Wachstum, kann man sich das sehr wohl leisten. Auch Italien könnte mit 3% für zehnjährige Staatsanleihen leben, wenn das nominelle Wachstum deutlich über 3% liegen würde. Die steigenden Zinsen werden kommen und sie werden keinen Staat in den Bankrott treiben, aber sie werden den Akteuren an den Finanzmärkten das Leben außerordentlich schwermachen.

Was heißt das?

Mit der Leichtigkeit der vergangenen Jahre – sprich: alle Assetpreise steigen – wird es dann vorbei sein. Für die Assetmanagement-Branche be­deutet das eine Umstellung. Im Anleihenbereich gewinnt das Durationsmanagement, also aktives Laufzeitenmanagement, das wir bei Bantleon schon lange betreiben, massiv an Bedeutung. Nur so lassen sich Verluste begrenzen beziehungsweise Gewinne sichern. Inflationsindexierte Anleihen werden die Assetklasse dieses Jahrzehnts, weil der Kupon mit der Inflation steigt, was einen automatischen Schutz für den Anleger bietet. In den Fokus rücken wird ferner die aktive Bewirtschaftung von Risikoprämien, auch entlang des Konjunkturzyklus. Zudem geht es dann nicht mehr ohne vorausschauendes, aktives Risikomanagement, weil die Notenbanken nicht mehr auf jede Schockwelle mit neuen Billionenhilfen reagieren werden.

Und wie sieht es an den Aktienmärkten aus?

Hier sind die Herausforderungen noch größer. Zwischen den aktuellen Bewertungen und den Gewinnen klafft eine gewaltige Lücke, die sich im laufenden Jahr sogar noch einmal vergrößern dürfte. Aber was kommt dann? Die Geschichte hat uns gelehrt, dass die Aktienmärkte in der Dekade nach solch extrem hohen Bewertungen stets weit unterdurchschnittlich abgeschnitten haben. Für den MSCI World errechnet sich auf diese Weise für die nächsten zehn Jahre ein Ertrag von knapp unter 0% – kein gutes Umfeld für marktbreite ETFs. Wir werden wohl in den nächsten Jahren mehrere schmerzhafte Rücksetzer erleiden. Letzteres wäre übrigens typisch für ein Umfeld steigender Inflation und steigender Zinsen. Das gab es letztmals in den 1970er­ Jahren, die von einer hochvolatilen Seitwärtsphase an den Aktienmärkten geprägt waren. Diesem makroökonomischen Regime wird sich niemand vollends entziehen können. Aber man kann die Renditen im eigenen Portfolio steigern, indem man Aktien von denjenigen Unternehmen auswählt, die schwer ersetzbare oder einzigartige, überlegene Geschäftsmodelle mit Preissetzungsmacht haben. Dies dürfte zusammen mit einem disziplinierten Risikomanagement der Schlüsselfaktor für die Erzielung überdurchschnittlicher Erträge sein.

Das Interview führte