Im Gespräch: Regine Siepmann und Michael Kramarsch, HKP Group

"In Europa sitzen wir auf einem hohen Werte-Ross"

Das Thema ESG ist für die Tätigkeit der Aufsichtsräte noch nicht ausreichend abgegrenzt. Die Gremien bescheinigen sich selbst zwar in der Regel eine hohe Kompetenz in allen Nachhaltigkeitsaufgaben, die Governance-Berater der HKP Group stellen ihnen indes schlechtere Zeugnisse aus.

"In Europa sitzen wir auf einem hohen Werte-Ross"

Im Gespräch: Regine Siepmann und Michael Kramarsch, HKP Group

„In Europa sitzen wir auf einem hohen Werte-Ross“

Die Unternehmensberater über unterbelichtete ESG-Themen in Aufsichtsräten und überflüssiges Expertentum in den Kontrollgremien

Von Sabine Wadewitz, Frankfurt

Das Thema ESG ist für die Tätigkeit der Aufsichtsräte noch nicht ausreichend abgegrenzt. Die Gremien bescheinigen sich selbst zwar in der Regel eine hohe Kompetenz in allen Nachhaltigkeitsaufgaben, die Governance-Berater der HKP Group stellen ihnen indes schlechtere Zeugnisse aus.

Für Unternehmen und Investoren geht der verstärkte Fokus auf Nachhaltigkeit, soziale Verantwortung und gute Unternehmensführung mit einer stark steigenden Anzahl neuer regulatorischer und rechtlicher Fragestellungen einher. In dem Szenario wird immer lebhafter die Debatte geführt, wie die Rollen der ESG-Verantwortlichen zu besetzen sind und inwieweit Nachhaltigkeitsansprüche in Aktionismus enden.

Soziales noch nicht „ausdefiniert“

Speziell das Ausmaß der ESG-Verantwortlichkeit von Aufsichtsräten muss noch abgesteckt werden. In Umfragen stellen sich die Gremienmitglieder selbst subjektiv gute Zeugnisse über ihre Nachhaltigkeitsexpertise aus. Nachgewiesen werden muss die Leistung nicht. Es reicht, einen Haken im Kompetenzprofil zu setzen. Eindeutig ist bei aller anerkannten Profilierung, dass noch viele Aufgaben zu lösen sind.

„Das Thema Nachhaltigkeit stellt Aufsichtsräte vor immense Herausforderungen“, unterstreicht Michael Kramarsch, Gründer und Managing Partner der Unternehmensberatung HKP Group. Mit Blick auf ESG seien die Aspekte Governance und  Umwelt zwar weitgehend geregelt. Überhaupt noch nicht „ausdefiniert“ sei dagegen der Teil, der Soziales betreffe. „Mit der EU-Regulierung zum ESG-Reporting und dem Lieferkettengesetz hat dieses Nachhaltigkeitskriterium enorme Bedeutung in der Innen- und Außenwirkung bekommen“, warnt Kramarsch.

Mitbestimmung zieht

Eine der Herausforderungen ist aus Sicht des Corporate-Governance-Experten die Quantifizierung der ESG-Kriterien. „Noch ist unklar, wie gemessen wird.“ Zu klären sei auch, wie sich Aufsichtsratsprozesse und -strukturen an die neuen Erfordernisse anpassen müssen. „Bleibt es bei einer technischen Pflichtübung, um den Berichtspflichten im HR-Bereich zu genügen, oder ist der Aufsichtsrat zum Handeln gezwungen?“, fragt Kramarsch.

Fest steht aus Sicht der Unternehmensberatung, dass „Social“ als Teil von ESG einen „Riesenschub“ in der Aufsichtsratstätigkeit geben wird. „Das Gremium arbeitet bislang nicht strukturiert an diesen Themen“, sagt Regine Siepmann, Senior Partner und Leiterin der Corporate Governance Practice bei HKP. Bislang sei der Aufsichtsrat in seiner aktienrechtlichen Personalkompetenz auf den Vorstand beschränkt. HR-Themen unterhalb des Vorstands lägen zwar immer noch in der Verantwortung des Vorstands, über die ESG-Berichterstattung sei nun aber auch der Aufsichtsrat in der Pflicht. „Auch im Aufsichtsrat muss nun breiter über allgemeine HR-Themen berichtet werden als in der Vergangenheit“, warnt Siepmann.

Über die Mitbestimmung war das Thema Social schon in der Vergangenheit in Kontrollgremien adressiert. Kramarsch sieht inzwischen sogar einen Schulterschluss aus Investoren und Mitbestimmung in den S-Themen. „Investoren finden Mitbestimmung teilweise gut, weil ein höherer Organisationsgrad im Unternehmen automatisch S-Handlungsfelder positiv beeinflusst, etwa faire Bezahlung, Geschlechtergerechtigkeit sowie Arbeitsschutz und -sicherheit“, sagt Kramarsch und ergänzt: „Dort, wo es eine starke Mitbestimmung gibt, sind diese Themenfelder gut bespielt.“

Gut und gut gemeint liegen nahe beieinander.

Regine Siepmann

Die beiden Berater warnen insgesamt davor, den Unternehmen Aufgaben aufzubürden, die nicht in ihrer Verantwortung liegen.  „Gut und gut gemeint liegen nahe beieinander“, so Siepmann. Man müsse sich fragen, wie viel von „im Kern gesellschaftlichen Pflichten“ die Politik den Unternehmen übertragen sollte. Siepmann will hier die Ziele eher herunterschrauben: „Die Einhaltung der Menschenrechte und das Ende von Kinderarbeit sind fundamentale Ziele, aber ad hoc schwer weltweit umzusetzen, Firmen ziehen sich dann eher aus bestimmten Regionen zurück, wenn sie mit solchen Vorwürfen konfrontiert sind.“

"Ambiguitätstoleranz aushalten"

Ihre eigenen Sozialstandards dürfe die westliche Welt nicht unreflektiert global einfordern, meinen die Berater. „In Europa sitzen wir auf einem hohen Werte-Ross, aber zu verschiedenen sozialen Themen gibt es weltweit keinen Konsens, das müssen wir akzeptieren“, sagt Kramarsch. Es helfe nicht, „Unternehmen an den Pranger zu stellen, weil sie Rohstoffe aus China oder Afrika beziehen oder mit Produktionskapazitäten vor Ort an einer gesellschaftlichen Entwicklung arbeiten“. 

Mit widersprüchlichen Entwicklungen und Ansichten in anderen Regionen müsse die Gesellschaft umgehen. „Ambiguitätstoleranz muss man aushalten“, sagt Kramarsch.  Mit der ESG-Regulierung und dem „intensiv stattfindenden Public Shaming“ sei dies „etwas aus der Bilanz geraten“.

Ein Aufsichtsrat, der nur aus Experten besetzt wäre, wäre vollkommen ahnungslos.

Michael Kramarsch

Die Überregulierung schlägt sich nach Meinung von Kramarsch auch darin nieder, dass in Aufsichtsräten immer mehr Expertenwissen verlangt werde. Damit gehe der Anspruch verloren, dass es sich um ein unternehmerisches Entscheidungsgremium handele, das geschäftlichen Interessen verpflichtet sei.

In diesem professionellen Selbstverständnis hält es der Corporate-Governance-Berater für essenziell, „dass der Aufsichtsrat das Geschäft versteht und gerne noch eine Zusatzqualifikation mitbringt. Wenn das verloren geht, weil der Aufsichtsrat ein Übermaß an Zeit für Bürokratie und Regulatorik einsetzen muss, schwächt dies das Gremium“, fasst es Kramarsch zusammen.

Zu viele Experten im Kontrollgremium hält Kramarsch sogar für kontraproduktiv. „Ein Aufsichtsrat, der nur aus Experten besetzt wäre, wäre vollkommen ahnungslos.“ Die Fachleute würden ja nicht wegen ihrer unternehmerischen Kompetenz nominiert, sondern wegen einer Expertenzuschreibung. „Wie  kommen denn sonst die vielen Professorinnen und Professoren in die Gremien? Wenn im Aufsichtsrat immer mehr Experten sitzen, die auf Bienenzucht, Biodiversität und Umwelt fokussiert sind, hilft das der unternehmerischen Kontrolle und Strategie nicht“, sagt Kramarsch. 

KI-Experten „total gehyped“

Auch KI-Experten hält er in dem Zusammenhang für „total gehyped“, auch sie brächten „im Aufsichtsrat keinen Mehrwert, es sei denn, es handelt sich um ein Softwareunternehmen. Es geht um ein Verständnis der Anwendungen, nicht der Basistechnologie.“

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