Notiert in Brüssel

Europas Farbenlehre

Was wählen bei der Europawahl? Die "Partei der Vernunft" oder die "Partei des Fortschritts"? Oder die "Stimme der Letzten Generation“? Auf jeden Fall rot? Oder schwarz? Aufgepasst: Europas Farbenlehre ist anders als die bundesrepublikanische.

Europas Farbenlehre

Notiert in Brüssel

Europas Farbenlehre

Von Detlef Fechtner

Noch fünf Wochen bis zur Europawahl – langsam startet die heiße Phase. Am Montag haben sich in Maastricht Spitzenvertreter der wichtigsten Parteien zur Elefantenrunde getroffen. Mit von der Partie waren die deutsche Christdemokratin Ursula von der Leyen, der luxemburgische Sozialdemokrat Nicolas Schmit, die deutsche Liberale Marie-Agnes Strack-Zimmermann, der niederländische Grüne Bas Eickhout, der österreichische Linke Walter Baier sowie Maylis Roßberg vom Südschleswigschen Wählerverband für den Regionalparteienverband und der dänische Rechtsaußen Anders Vistisen. Vieles an diesem Abend verlief erwartungsgemäß. Etwa, dass der Rechtspopulist Vistisen kräftig gegen die EU-Kommission stänkerte („Die Erste, die ich in Brüssel feuern würde, wären Sie, Frau von der Leyen!“). Aber es gab auch eine echte Überraschung: Alle Sprecher hielten sich an die vorgegebene Redezeit. Wow! Die gleichen Politiker, die in Plenardebatten regelmäßig alle roten Blinklichter und Zeitlimit-Ermahnungen der Sitzungsleiter ignorieren und plappern, als hätten sie Quasselwasser getrunken.

Überraschungen hält für die Bundesbürger übrigens auch der Wahlzettel zur Europawahl bereit. 35 Parteien und Bündnisse hat der Bundeswahlleiter zugelassen. Nicht alle sind jedem vertraut. Immerhin: Bei einigen kann man sich denken, wofür sie stehen, etwa bei der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands oder der Liste „Parlament aufmischen – Stimme der Letzten Generation“. Etwas schwieriger zu deuten ist da schon, welches europapolitische Programm die „Partei für Veränderung, Veganer und Vegetarier“ vertritt oder auch die „Partei für schulmedizinische Verjüngungsforschung“. Und richtig schwer einzuordnen sind politische Angebote wie die „Partei des Fortschritts“ oder die „Partei der Vernunft“, ganz zu schweigen vom Bündnis „Menschliche Welt“.

Die schlechte Nachricht heißt: Leider helfen – anders als bei heimischen Wahlen – die farblichen Kennzeichnungen nicht, um die politischen Profile (sozialistisch, liberal, konservativ) zu erahnen. Denn Europas Farbenlehre unterscheidet sich von der bundesrepublikanischen. So ist in den EU-Prognosecharts häufig die christdemokratische EVP nicht schwarz, sondern blau gekennzeichnet, rechtsextreme Parteien oft schwarz statt braun. Und als wäre das nicht Konfusion genug, sind Parteienfamilien oft überraschend zusammengesetzt. So zählen Frankreichs Rechtsextreme um Eric Zemmour, die öffentlich über eine angebliche Kolonisierung Europas durch Migranten schwadronieren, nicht zum Rechtsaußen-Block von AfD und Vrijheidspartij, sondern zur rechtskonservativen Fraktion ECR. Unterdessen ist die ungarische Fidesz fraktionslos. Und Obacht: Die „SPD“ im Europaparlament hat nichts mit den politischen Nachfahren von Willy Brandt zu tun. Vielmehr handelt es sich um „Svoboda a přímá demokracie" – einen tschechischen Rechtsausleger, islamfeindlich und euroskeptisch. Also: Augen auf bei der Europawahl!