Forschungsstandort der Chemie

Deutschland droht den Anschluss zu verlieren

Als Forschungsstandort für die Chemieindustrie droht Deutschland den Anschluss zu verlieren. Die Gründe dafür sind vielfältig.

Deutschland droht den Anschluss zu verlieren

Als Forschungsstandort gerät
Deutschland in Gefahr

Die Innovationskraft der deutschen Chemieindustrie ist riesig, doch die Rahmenbedingungen sind schwierig.

Von Annette Becker, Düsseldorf

Die deutsche Chemieindustrie war lange eine der Vorzeigeindustrien der Bundesrepublik. Für den Industriestandort D war das wichtig, steht die als „Mutter aller Industrien“ apostrophierte Branche doch am Anfang jeder Wertschöpfungskette. Dass es den deutschen Chemieunternehmen gelungen ist, eine führende Position im Weltmarkt zu erobern, ist umso bemerkenswerter, als Deutschland keine nennenswerten Rohstoffvorkommen besitzt und auch in der Vergangenheit nicht mit günstigen Energiekosten gesegnet war. Nur dank Innovationen konnte die Branche diese Nachteile wettmachen.

Nun aber scheint der Wendepunkt erreicht. „Die chemische Industrie in Europa ist mit zwei entscheidenden komparativen Wettbewerbsnachteilen konfrontiert: den im Vergleich hohen Energiekosten und der Regulatorik“, sagt Harald Schwager, der im Vorstand von Evonik für Innovation zuständig ist. Dabei ist es egal, ob über Gas- oder Strompreise gesprochen wird, haben sich beide Energieträger seit Mitte 2021 doch explosionsartig verteuert.

Ideologie

Zugleich hat sich der Abstand zu wichtigen Wettbewerbsregionen spürbar ausgeweitet. Nach Angaben des Chemieverbands VCI lag der Strompreis für Großabnehmer mit einem Verbrauch von mehr als 150.000 Megawattstunden (MWh) in der ersten Jahreshälfte 2023 hierzulande bei 15,9 Cent je Kilowattstunde (KWh). In den USA mussten nur 4,4 Cent/KWh gezahlt werden und in China 9,1 Cent/KWh. Selbst in Frankreich wurden nur 8,9 Cent/KWh fällig.

Nach Einschätzung von Schwager ist das auch politisch gewollt: „In Deutschland glaubt man bis heute, dass nur teure Energie gute Energie ist. Dahinter steckt die Ideologie, dass die Unternehmen nur so dazu gebracht werden, an ihrer Energieeffizienz zu arbeiten.“ Ein Trugschluss: Angesichts der hohen Preise habe die Industrie im vorigen Jahr tatsächlich weniger Energie verbraucht. Da die Anlagen aber weniger stark ausgelastet waren, habe sich die Energieeffizienz pro Produkt verschlechtert, erläutert der Chemiker.

Zu viel Kohlestrom

Hinzu kommt: Deutschland weist in puncto Energie eine verheerende CO2-Bilanz auf, weil viel Kohlestrom genutzt wird. „Wenn ein Unternehmen bereits durch den Energieverbrauch einen höheren CO2-Footprint verzeichnet, zieht sich das durch die gesamte Wertschöpfungskette“, veranschaulicht Bernd Elser, Global Lead for Chemicals and Natural Resources bei Accenture, und ergänzt: „Das Energiethema ist in der Diskussion ganz elementar, sowohl aus Kosten- als auch aus CO2-Sicht.“

Der zweite Punkt, der die hiesige Chemieindustrie im Wettbewerb bremst, ist die Regulierung. „Die Regulatorik hat dazu geführt, dass in Europa in manchen Forschungsgebieten wie beispielsweise der roten und grünen Biotechnologie kaum noch geforscht wird. Auf diesen Gebieten ist die Forschungsinfrastruktur, zu der auch die universitäre Landschaft gehört, abgewandert“, stellt Schwager fest. Zwar scheint die EU-Kommission mittlerweile erkannt zu haben, dass sich Europa in der Gentechnik nicht vom Rest der Welt abkoppeln kann. Doch der im Sommer vorgestellte Gesetzesentwurf zum Einsatz von Gentechnik in der Landwirtschaft stößt auf breiten Widerstand.

China hat aufgeholt

Schwager befürchtet nun, dass der weißen Biotechnologie – also dem Einsatz von Bakterien oder Enzymen zur Umwandlung organischer Stoffe – ein ähnliches Schicksal droht. Das als Fermentation bekannte Verfahren habe sich als Technologie mit großem Potenzial entpuppt. Über kurz oder lang werde es jedoch darum gehen, das Bakterium so zu modifizieren, dass es möglichst viel produziert. Das gehe nur über die Optimierung der DNA des Bakteriums. Streng genommen würde das Bakterium dann der Regulierung gentechnisch modifizierter Organismen unterliegen.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Innovationskraft in anderen Regionen gestiegen ist, so dass die relative Bedeutung von Deutschland/Europa gesunken ist. Bestes Beispiel dafür ist China, das es heute auf einen Anteil an der weltweiten Chemieproduktion von 40% bringt. Gemessen an den F&E-Ausgaben ist Deutsch­land hinter den USA, China und Japan zwar noch immer der viertgrößte Chemie-Innovationsstandort, wie aus Daten von Chemdata International hervorgeht.

Die als Frühindikator geltenden Patentanmeldungen untermauern jedoch, dass Deutschland an Innovationskraft verliert. Im internationalen Vergleich rangiert die Bundesrepublik beim Anteil an den weltweiten Chemie- und Pharmapatentanmeldungen mittlerweile nur noch auf Platz 5. Vor gut zehn Jahren zählte Deutschland noch zu den Top 3.

Engt man den Blick auf die F&E-Ausgaben der Chemie exklusive Pharma ein, ist China mit F&E-Aufwendungen von 21,8 Mrd. Euro (2022) sogar einsamer Spitzenreiter, vor den USA (12,7 Mrd. Euro). Die hohen Forschungsausgaben in der Volksrepublik stammen aber nicht notwendigerweise aus chinesischen Kassen, vielmehr forscht auch die weltweite Chemieindustrie im Reich der Mitte.

Auf das Wachstum kommt es an

„Die Innovationskraft der deutschen Chemieindustrie ist riesig. Die Unternehmen investieren weiterhin, aber nicht notwendigerweise in Deutschland“, konstatiert Elser. Das liege daran, dass Innovation dort stattfinde, wo die Wirtschaft wächst. „Im Vergleich zu Nordamerika, Südostasien oder auch Japan befindet sich Europa gerade in einer Schwächephase“, so der Senior Managing Director. 

„Bei der Entscheidung für einen Forschungsstandort stellt sich immer die Frage nach dem dazugehörigen Ökosystem“, sagt Schwager und verweist auf die Forschung an Batterietechnologien: „Der bevorzugte Standort ist Schanghai, weil vorzugsweise in Asien produziert wird.“ Da die Innovationszyklen kurz seien, spiele Schnelligkeit eine große Rolle.

Als weiterer Bremsklotz erweist sich der in Deutschland veraltete Anlagenpark der kapitalintensiven Industrie. Wenngleich unstrittig ist, dass der Einsatz fossiler Energieträger dauerhaft keine Zukunft hat, konzentriert sich die Forschung auf die Suche nach alternativen Rohstoffen, die in den bestehenden Anlagen eingesetzt werden können.

Das über Jahrzehnte bewährte Verbundkonzept spricht ebenfalls für die Nutzung der installierten Anlagen. „Das Verbundkonzept ist relevanter als je zuvor. Die Herausforderung ist, den Verbund neu zu definieren, und zwar auch auf Ebene von Produkten und einzelnen Molekülen. Letztlich muss der Verbund umgebaut werden“, sagte Elser. Zwar wird schon seit Jahren über die Kreislaufwirtschaft geredet, doch sind viele Prozesse dafür noch nicht vorhanden und definiert.

Kreislaufwirtschaft

Für Schwager ist die Kreislaufwirtschaft ein Zukunftsthema, auch wenn die Implementierung Zeit brauche. „Die Transformation von 150 Jahren Industriegeschichte, in denen ein auf fossilen Energieträgern basierender Anlagenpark entstanden ist, geht nicht von heute auf morgen“, veranschaulicht der Chemiker.

Schwarz sieht Schwager für den Forschungsstandort Deutschland trotzdem nicht. Dabei setzt der Manager auch auf ein Einsehen der Regulatoren, denn „dass Deutschland auch künftig in der Chemie erfolgreich ist, geht nur, wenn wir in den Gebieten forschen, welche die vorhandenen energiepolitischen und regulatorischen Rahmenbedingungen verkraften können“.  

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