Wirtschaftspolitik

Neues Fundament für Europas Wohlstand

Zu wenige Rohstoffe und Halbleiter, zu hohe Energiepreise und überbordende Bürokratie: Mit welchen Mitteln die Europäische Union um ihre Wettbewerbsfähigkeit kämpft.

Neues Fundament für Europas Wohlstand

Neues Fundament für Europas Wohlstand

Mit welchen Mitteln die EU um ihre Wettbewerbsfähigkeit kämpft.

Von Stefan Reccius, Brüssel

Super-Mario hat wieder eine Aufgabe. Der einstige Präsident der Europäischen Zentralbank soll vom Retter des Euro zum Retter der Wirtschaft werden. So mutet jedenfalls der Auftrag an, den Mario Draghi von EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen bekommen hat: Ein Masterplan für die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen muss her. Bis zum Frühjahr soll der Italiener liefern.

Zu wenige Halbleiter und Rohstoffe, zu hohe Energiepreise und überbordende Bürokratie: Dieser Dreiklang untergräbt das solide wirtschaftliche Fundament Europas. So sehen es zumindest viele Unternehmer. Von der Leyen gelobt Besserung. Sie wird sich vor den Europawahlen mehr denn je daran messen lassen müssen, ihren Worten Taten folgen zu lassen.

Milliardensubventionen

Der 2. Mai 2023 war ein Tag ganz nach dem Geschmack der Deutschen. Der Dax-Konzern Infineon hat nach Dresden geladen. Symbolischer Spatenstich für eine neue Halbleiterfabrik. Die geballte Politprominenz ist da. Auch von der Leyen gibt sich die Ehre. In salbungsvollen Worten adelt sie Dresden und das selbst ernannte Silicon Saxony als „digitalen Leuchtturm in Europa“. Er soll helfen, Europas Weltmarktanteil bei Chips bis 2030 auf 20% mehr als zu verdoppeln.

Hier entsteht ein neues Halbleiterwerk in Dresden (Foto: picture alliance/imageBROKER | Sylvio Dittrich)

Den Leuchtturm gibt es in dieser Form nur, weil Deutschland und die EU mit Steuermilliarden nachhelfen. Infineon, TSMC, Intel: Staatliche Anschubhilfen für Chipwerke summieren sich auf zig Milliarden Euro. Mehr als 40 Mrd. Euro lässt sich die EU ein Förderprogramm namens Chips Act kosten. Alles mit dem Ziel, sich aus der Abhängigkeit von China zu lösen.

Probleme der EU-Kommission

Das neue Fundament von Europas Wirtschaft ist aus Subventionen gegossen. Das gilt auch für Elektroautobatterien, Windkraft, Wasserstoff. Geld ist genug da: Rein von der Größe kann es der rund 800 Mrd. Euro schwere EU-Wiederaufbaufonds mit dem US-Pendant Inflation Reduction Act locker aufnehmen. Klotzen kann die EU-Kommission durchaus, ihre Probleme liegen woanders.

Erstens hat sie einen politischen Wettbewerbsnachteil: Anders als Joe Bidens US-Regierung darf sie nicht flott mit Steuergutschriften winken, das können nur die nationalen Regierungen. Stattdessen müssen die Unter­nehmen mühsam Förderanträge schreiben. Die müssen in Brüssel detailliert geprüft und genehmigt werden. Erst dann fließt Geld. Das dauert. Die Ministerpräsidenten haben das persönlich bei von der Leyen beklagt. Ihr Industriekommissar Thierry Breton räumt kleinlaut ein, man müsse schneller werden.

Brüssel treibt Behörden an

Schneller werden: Das verlangt von der Leyens Behörde auch von den Mitgliedstaaten. Deren Genehmigungen für Industrieprojekte dauern quälend lang, zehn Jahre und mehr. Die EU-Kommission nimmt sie in die Pflicht, die Verfahren drastisch zu verkürzen und zu entschlacken. So will sie erreichen, dass Unternehmen Anlagen viel schneller hochziehen können. Doch weder kann Brüssel mehr Personal für nationale Behörden verfügen, noch Klagen abwimmeln.

Mitunter führt auch der eigene klima- und umweltpolitische Ehrgeiz ins Dilemma. Ein Paradebeispiel ist das Mercosur-Handelsabkommen: Über Monate flehten Wirtschaftsverbände, der Deal mit den südamerikanischen Handelspartnern Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay möge nach 20 Jahren endlich besiegelt werden. Ungelöster Streit über das Nachhaltigkeitskapitel verhinderte den für Anfang Dezember geplanten Abschluss.

Eine riesige Freihandelszone mit dem Mercosur könnte zum neuen handelspolitischen Fundament der europäischen Wirtschaft taugen. Stattdessen zerredet Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron den Handelsvertrag. Mit seinen Sorgen um Nachteile für Rinderzüchter und Industriebetriebe steht Macron nicht allein da. Einmal mehr steht sich die EU selbst im Weg. Und muss auch noch ertragen, wie Australien aus heiterem Himmel fortgeschrittene Gespräche über ein Handelsabkommen aufkündigt.

Lichtblick Chile

Solche Abkommen wären dringend nötig, um bei Energie und Rohstoffen nicht länger auf unberechenbare Autokratien wie Russland und China angewiesen zu sein. Immerhin, es gibt einen Lichtblick: Die neue, moderne Partnerschaft mit Chile verheißt Gutes in der Versorgung mit Lithium. Und das Handelsabkommen mit Neuseeland feiert man in der deutschen Wirtschaft als dringend notwendiges Signal gegen verbreiteten Protektionismus.

Auch der Binnenmarkt macht der EU-Kommission zu schaffen. Sie befindet sich in einer Zwitterstellung: Einerseits hat sie mit ihrem exklusiven Initiativrecht für EU-Gesetze das größte Subventionsprogramm in der Geschichte der Gemeinschaft aufgelegt. Andererseits muss sie in ihrer Funktion als Wettbewerbshüterin achtgeben, dass die EU-Staaten einander nicht übervorteilen.

Berliner Ignoranz

Unter besonderer Beobachtung steht die Bundesregierung. Seit einem Jahr dringt Brüssel darauf, endlich Subventionen für Energiepreise einzustellen. Berlin verlängerte die Strompreisbremsen trotzdem. Leisten kann die Ampel sich ihre Ignoranz nicht zuletzt dank eines Deals mit Paris: Frankreich darf weiter seine Atomkraft fördern, Deutschland seine energieintensive Industrie.

Mittelständler sind gefrustet, Autobauer alarmiert. Das liegt an einem Auftritt von der Leyens Mitte September. Die Kommissionschefin hat den Spaten gegen Pult und Manuskript getauscht. Diesmal weiht sie keine Fabrik ein, sondern hält im Plenarsaal des Europaparlaments in Straßburg ihre halbjährliche Rede zur Lage der Union.

Ursula von der Leyen im EU-Parlament (Quelle: EU) EU

Von der Leyen liefert, nur anders als Deutschlands Autobauer sich das vorstellen: Sie verkündet ein Anti-Dumping-Verfahren wegen Chinas E-Auto-Subventionen. Strafzölle drohen. Mittelständler lässt aufhorchen, dass sie einen Beauftragten für deren Belange in ihrer Behörde installieren will. Vieles andere kommt ihnen hingegen bekannt vor: Von der Leyen umschmeichelt Kleinunternehmer, indem sie ihnen Entlastungen verspricht. Beispielsweise mit der Ankündigung, die bürokratischen Bürden um mindestens ein Viertel zu reduzieren. Vertretern der Wirtschaft ist das zu vage.

Verbriefungsoffensive

Und dann ist da noch die viel beschworene Kapitalmarktunion. Auffallend offensiv fordern Top-Banker, Europas Verbriefungsmarkt wiederzubeleben. Sie wollen an Unternehmen ausgereichte Kredite bündeln und am Kapitalmarkt platzieren, um in ihren Bilanzen Raum für Neugeschäft zu schaffen. Auf diese Weise, so die Erzählung von Deutsche-Bank-Chef Christian Sewing und Commerzbank-Chef Manfred Knof, ließen sich dringend nötige Investitionen fundamental stimulieren.

Die EU-Kommission hat vor, nach den Europawahlen einen Anlauf zu Verbriefungen zu nehmen. In jüngster Zeit waren ihr andere Kapitalmarktvorhaben wichtiger. Wer weiß: Womöglich taucht das Wunschthema Verbriefungen sogar in Mario Draghis Masterplan auf.

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