BlickfeldVerteilungsbericht 2023

WSI sieht Armut als Gefahr für die Demokratie

Einkommensungleichheit und Armut sind laut dem WSI-Verteilungsbericht 2023 in Deutschland weiter gestiegen: Eine Gefahr für die Demokratie, warnen die Forscher und heben drei mögliche Gegenmaßnahmen hervor.

WSI sieht Armut als Gefahr für die Demokratie

Armut in Deutschland betrifft die ganze Gesellschaft

WSI-Verteilungsbericht: „Einkommensungleichheit als Gefahr für die Demokratie“

Von Alexandra Baude, Frankfurt

Armut bedeutet für die Betroffenen nicht nur materielle Einschränkungen, sie machen sich zudem mehr Sorgen um ihre Gesundheit und ihre Zukunft. Sie haben aber auch weniger Vertrauen in staatliche und demokratische Institutionen. Damit sind die seit Jahren steigende Einkommensungleichheit und Armut in Deutschland laut dem Verteilungsbericht 2023 des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung auch eine Gefahr für die Demokratie.

Mit materiellen Einschränkungen und dem Gefühl geringer Anerkennung ginge bei vielen Betroffenen eine erhebliche Distanz zum politischen System einher, schließen die Forscher aus Daten des Mikrozensus, der das Jahr 2022 umfasst, sowie des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) für das Jahr 2021. „Mehr und wirksameres politisches Engagement gegen Armut und Ungleichheit ist ein wesentlicher Ansatz, um die Gesellschaft zusammen- und funktionsfähig zu halten, gerade in Zeiten großer Veränderungen und der Herausforderung durch Populisten“, mahnt daher Bettina Kohlrausch, wissenschaftliche Direktorin des WSI.

Armutsquote steigt ebenfalls

Die Einkommen seien heute sehr ungleich verteilt, wenn man die Entwicklung seit Ende der 1990er Jahre betrachte, heißt es beim WSI. 2022 zeigten sich kaum Veränderungen gegenüber dem 2021 erreichten Höchststand. Auch die Armutsquote ist seit den 2010er Jahren im Trend gestiegen. 2022 lag sie mit 16,7% spürbar über den vor Beginn der Pandemie 2019 ausgewiesenen 15,9%. 10,1% der Menschen in Deutschland lebten im vergangenen Jahr sogar in strenger Armut. Zum Vergleich: 2010 lagen die beiden Quoten dem WSI zufolge noch bei 14,5 bzw. 7,7%. Überdurchschnittlich oft von Armut betroffen seien Arbeitslose, Minijobber, Ostdeutsche, Frauen, Alleinerziehende, Menschen mit Migrationshintergrund, Singles und Menschen, deren Schulabschluss maximal einem Hauptschulabschluss entspreche. Für einen Singlehaushalt gibt das WSI die Armutsgrenze für 2022 mit einem verfügbaren Haushaltseinkommen von knapp 1.200 Euro pro Monat an. Von einer strengen Armut wird bei weniger als 1.000 Euro gesprochen.

Stabiler Anteil der Einkommensreichen

Der Anteil der „Einkommensreichen“, die als Single 2022 mit knapp 4.000 Euro mehr als das doppelte des mittleren
Einkommens zur Verfügung haben, schwankte hingegen zuletzt um einen Anteil von 8% aller Haushalte, mit einer eher sinkenden Tendenz. Zwischen 2010 und 2018, also der Zeit nach der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise, als Deutschland ein stabiles Wirtschaftswachstum verzeichnete, lag der Anteil der Reichen stabil bei um die 8,1%.

Hilfen waren teils erfolgreich

Interessant finden die Studienautoren Jan Brülle und Dorothee Spannagel, dass der Anteil der Armen in der Coronakrise weiter stieg, von 2021 auf 2022 aber von 16,9% auf 16,7% sank. Der Rückgang könne „in Zusammenhang mit den Entlastungsmaßnahmen stehen, welche die Politik 2022 auf den Weg gebracht hat – unter anderem Zuschläge zu den Leistungen für Grundsicherungsempfänger“. Auch wenn die Antikrisenpolitik der Bundesregierung nach Beginn von Ukraine-Krieg und Energiepreisexplosion die oberen Einkommensschichten in absoluten Zahlen mindestens ähnlich stark entlastet habe, „leistete sie damit möglicherweise einen kleinen Beitrag zur Armutsbekämpfung“, heißt es in dem am Donnerstag vorgelegten WSI-Verteilungsbericht 2023 mit dem Titel „Einkommensungleichheit als Gefahr für die Demokratie“.

Unterschiedliche Wahrnehmung

Der Verteilungsbericht zeigt, dass es je nach Einkommen auch deutliche Unterschiede in Bezug auf das Erleben von Wertschätzung beziehungsweise Geringschätzung gibt. So glaubten gut 24% der dauerhaft Armen – also Menschen, die seit fünf oder mehr Jahren unter der Armutsgrenze leben –, dass andere auf sie herabsehen. Bei den temporär Armen sehen dies weniger als 14% so, bei Personen mit mittlerem Einkommen sind es 8%, sowie kaum mehr als 3% der Einkommensreichen. Hingegen gaben fast 48% der Einkommensreichen an, dass andere oft zu ihnen aufsehen. Unter den dauerhaft Armen empfanden nur 28% dies so. „Solche Unterschiede im Erleben von Anerkennung und Missachtung können eine Entfremdung unterer Einkommensklassen von der Gesellschaft, aber auch vom politischen System begünstigen“, warnen Brülle und Spannagel. Tatsächlich zeige sich eine deutliche Korrelation zwischen Einkommenshöhe und geringem Vertrauen in staatliche und demokratische Institutionen. So gibt es unter den Reichen nur wenige, die dem Rechtssystem nicht vertrauen – unter den dauerhaft Armen sind es aber mehr als ein Drittel. Und während weniger als ein Fünftel der Reichen dem Bundestag nur wenig Vertrauen entgegenbringen, ist es fast die Hälfte der dauerhaft Armen, wie es beim WSI heißt.

Drei Gegenmaßnahmen

Zwar seien die gesellschaftlichen Auswirkungen der vergangenen Krisen in ihrer Breite noch gar nicht abzuschätzen, doch „deutet vieles darauf hin, dass sie die soziale Spaltung in Deutschland vertieft haben“, schreiben Brülle und Spannagel. Um den wachsenden Ungleichheiten zu begegnen, heben sie drei Maßnahmen hervor. So müsse die Grundsicherung auf ein armutsfestes Niveau erhöht werden. Um Armut trotz Arbeit zu reduzieren, empfehlen die Forscher einen Mix aus höherer Entlohnung und einer besseren Erwerbsbeteiligung, gerade von Menschen mit geringen formalen Qualifikationen.

Dazu zählten ein höherer Mindestlohn, die Stärkung der Tarifbindung sowie mehr einzelfallorientierte Qualifizierungsmaßnahmen – und ein weiterer Ausbau der Kinderbetreuung. Zudem sollten Reiche und Superreiche stärker an der Finanzierung des Gemeinwohls beteiligt werden. Ansätze sehen Brülle und Spannagel bei einem höheren Spitzensteuersatz und einer progressiven Vermögensteuer. Auch sollten die Schlupflöcher in der Erbschaftsteuer geschlossen werden. Dabei müsse es aber bei der Vermögen- wie auch der Erbschaftsteuer hohe Steuerfreibeträge geben, forderten die Studienautoren.

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