Einfriereffekt

Verhandlungs­lösung kann die Mitbestimmung in der SE sichern

Die Ampelregierung sieht Handlungsbedarf bei der Mitbestimmung in der SE. Ein Gutachten, das die Stiftung Familienunternehmen in Auftrag gegeben hat, klärt die Lage.

Verhandlungs­lösung kann die Mitbestimmung in der SE sichern

Sind die Mitbestimmungsrechte der deutschen Belegschaft nach Um­wandlung in eine Europäische Aktiengesellschaft (SE) geschützt? Oder besteht Handlungsbedarf, wie es der Koalitionsvertrag der aktuellen Ampelregierung angekündigt hat? Sie wollte das Thema Mitbestimmung in der SE angehen, vor allem wegen des sogenannten „Einfriereffekts“: Damit also die SE-Gründung (für die es viele gute Gründe gibt) nicht missbräuchlich zur Umgehung von Mitbestimmungsregeln genutzt wird.

Die Stiftung Familienunternehmen hat sich das genauer angesehen und ein Gutachten beauftragt: bei Professor Christoph Teichmann von der Universität Würzburg, Experte sowohl für deutsches als auch europäisches Handels- und Gesellschaftsrecht. Dieses gewinnt an Aktualität, weil die Koalition Anfang 2023 einen großen Aufschlag zur Mitbestimmung plant. Einige Elemente finden sich bereits in einer aktuellen Gesetzesänderung zu Verschmelzung und Umwandlung. Diese hat zunächst gar nichts mit der SE zu tun. Aber hier wird zum Beispiel festgeschrieben, wie schnell nach einer Umwandlung ein Unternehmen sein Erscheinungsbild wesentlich verändern darf. Und diese Frist ist wichtig, auch bei der SE.

Zum Hintergrund: In Deutschland hat die unternehmerische Mitbestimmung einen hohen Wert – höher als in anderen Mitgliedsstaaten der EU. Gemeint ist nicht die betriebliche Mitbestimmung (also die Bildung von Betriebsräten), sondern die Mitbestimmung im Aufsichtsrat für Unternehmen gewisser Größe. Das Wahlrecht für Arbeitnehmer im Aufsichtsrat gilt in klassischen Rechtsformen nur für Arbeitnehmer, die im deutschen Teil des Unternehmens tätig sind. Viele international tätige Familienunternehmen entscheiden sich für die Rechtsform der Societas Europaea (SE), also der europäischen Aktiengesellschaft, die Mitarbeiter im Ausland einbezieht. Auch dort findet unternehmerische Mitbestimmung statt.

Dafür gibt es seit rund 20 Jahren eine Grundlage im europäischen Recht. Dabei nimmt das Unternehmen den Grad seiner Mitbestimmtheit abhängig von der Beschäftigtenzahl in die neue Rechtsform mit; sie bleibt im Nachgang fix, auch wenn die Beschäftigtenzahl steigt. Man nennt das Einfriereffekt.

Das Rechtsgutachten von Professor Teichmann kommt zu dem Schluss: Diesen „Einfriereffekt“ bei der unternehmerischen Mitbestimmung der SE begrenzt der Gesetzgeber in Deutschland schon heute. Die Arbeitnehmer können sich auf den Bestandsschutz verlassen und notfalls nachverhandeln. Deutschland erfüllt mit seiner Missbrauchsregelung die europäischen Vorgaben und könnte sie höchstens noch näher konkretisieren.

Zweiklang

Teichmann beschreibt die weit voneinander entfernten Traditionen der Mitbestimmung in Europa: 30 Jahre währte der Weg zur SE-Richtlinie und einer SE-Verordnung zur Arbeitnehmerbeteiligung. Er sieht keine Möglichkeit, das EU-Recht einseitig aus deutscher Sicht anzufassen. Er hält außerdem viel vom derzeit geltenden Vorgehen: Das ist ein Zweiklang aus Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern und einer Auffangregelung für den Fall, dass sie sich nicht einigen. Dadurch wird bei Umwandlung in eine SE mindestens das Mitbestimmungsniveau der alten Rechtsform gewahrt.

Mit Blick auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sieht Teichmann für den deutschen Gesetzgeber nur die Möglichkeit, dem Missbrauch des Einfriereffekts entgegenzuwirken, indem man engere Kriterien für eine Missbrauchsvermutung festlegt: Das Unternehmen darf sich nach der Umwandlung in eine SE nicht sofort wesentlich anders darstellen als zuvor. Und hier kommt die oben erwähnte Frist ins Spiel: Was heißt sofort?

Gute Motive für die SE

Der Gesetzgeber sollte vorsichtig sein und das Erfolgsmodell SE nicht beschädigen. Wenn wir darauf schauen, welche Neuerungen uns in den letzten Jahrzehnten bei der Verwirklichung des europäischen Binnenmarkts spürbar vorangebracht haben, dann steht sie ganz weit vorn: die SE. Die flexible Corporate Governance bestärkt die Unternehmen, sich dem Wettbewerb auch außerhalb der Heimat zu stellen. Mit jeder einzelnen Umwandlung gelingt sie ein Stück mehr: die europäische Integration.

Heute, nach 18 Jahren europäischer Unternehmenspraxis, wird das Modell kritisiert, ja einem Generalverdacht ausgesetzt. Von „Mitbestimmungsvermeidung“ ist da die Rede, von „Flucht aus der Mitbestimmung“, sobald eine Umwandlung in die SE ansteht.

Der dauerhafte Bestand eines individuell passgenauen Mitbestimmungsregimes, auf das sich die Beteiligten im sogenannten „Besonderen Verhandlungsgremium“ einigen, wird nicht etwa gefeiert. Manche Gewerkschaftler und Politiker sehen im Einfriereffekt das zentrale Motiv der Unternehmensführung für einen Rechtsformwechsel. In diesem Weltbild gilt es, einiges geradezurücken. Professor Teichmann hat analysiert, was deutsche Familienunternehmen tatsächlich zum Schritt in die SE bewegt. Die Studienergebnisse decken sich mit meinen Erfahrungen aus den Aufsichtsräten deutscher Familienunternehmen. Die SE passt mit ihrer grenzüberschreitenden Ausrichtung oft sehr gut zu diesen Global Playern. Spezifische Vorteile liegen etwa im Wahlrecht zwischen dualistischer und monistischer Leitungsstruktur, die passgenau auf die Erfordernisse des Unternehmens ausgerichtet werden kann.

Denken in Generationen

Noch eine Erfahrung möchte ich teilen. Die großen deutschen Familienunternehmen binden selbstverständlich die Belegschaft auf betrieblicher Ebene ein – national und international. Verantwortung für die Region und ihre Menschen ist selbstverständlich für die Eigentümerfamilien. Während die meisten Anteilseigner in Publikumsgesellschaften kurzfristige Interessen, im Extremfall den nächsten Quartalsabschluss, im Blick haben, denken Familienunternehmer in Generationen.

Diesen nachhaltigen Ansatz teilen sie mit ihren Arbeitnehmern, die sich attraktive Arbeitsbedingungen und den Erhalt ihrer Arbeitsplätze wünschen. Die Rolle des Gegengewichts zur Kapitalseite, die die Mitbestimmung in Aufsichtsräten anonymer Großkonzerne einnimmt, kommt der Arbeitnehmerseite in Familienunternehmen nur eingeschränkt zu. Hier sind Interessengegensätze nicht so groß. Im Familienunternehmen laufen Haftung und Verantwortung laufen. Was wir in den Blick nehmen müssen, ist das sensible Wechselspiel des sozialen Ausgleichs mit dem Schutz des unternehmerischen Eigentums.

Einheitliches Schutzniveau

Professor Teichmann verweist auf die geringen Handlungsoptionen des nationalen Gesetzgebers, wenn es darum geht, den „Einfriereffekt“ einzudämmen. Es gibt ein einheitliches Schutzniveau für Arbeitnehmer in der Europäischen Union. In diesem Rahmen dürfen Unternehmen flexibel agieren. Und Professor Teichmann macht uns Hoffnung: Zumindest jene deutschen Unternehmen, die bereits den Weg in die SE gefunden haben, wären von entsprechenden Aktivitäten der Bundesregierung nicht betroffen. Auf Vertrauensschutz und Rückwirkungsverbot können sie sich verlassen.

Für die Zukunft gilt: Deutschland sollte die SE im Vergleich zu anderen Unternehmensformen, in denen globale Wettbewerber organisiert sind, strukturell nicht schwerfälliger und in der Entscheidungsfindung nicht langsamer machen. Der EU-Gesetzgeber sollte alles daransetzen, die SE zu stärken und weitere Projekte voranzubringen, die den Binnenmarkt lebendig werden lassen.