LeitartikelLeitzinssenkung

Darum sind die Schweizer schneller

Die überraschende Leitzinssenkung der Schweizerischen Nationalbank wirft ein Schlaglicht auf die finanzmarktnahe Ökonomenzunft, die zum eigenen Vorteil und zum Vorteil ihrer Klientel gerne etwas Vorlauf hätte. Stichwort: Forward Guidance.

Darum sind die Schweizer schneller

Leitzinssenkung

Darum sind die Schweizer schneller

Die Nationalbank verweigert der finanzmarktnahen Ökonomenzunft den Vorlauf, den diese gerne hätte.

Von Daniel Zulauf

Mit der ersten Leitzinssenkung seit mehr als neun Jahren hat die Schweizerische Nationalbank am Donnerstag die meisten ihrer Beobachter auf dem falschen Fuß erwischt. Es war die weltweit erste Zinssenkung im aktuellen Zyklus. Dass die Zentralbank damit für Schlagzeilen sorgte, war keine Überraschung. Erstaunlich ist hingegen, dass ein großer Teil der Ökonomenzunft nicht mit der Zinssenkung gerechnet hatte. Warum eigentlich?

Die Fakten lagen doch auf dem Tisch. Die Inflation bewegt sich in der Schweiz schon lange nach unten. Im August 2022 hatte sie mit 3,5% ihren Höhepunkt erreicht. Inzwischen bewegt sie sich schon seit mehreren Monaten unter den ominösen 2%, also der Schwelle, an der sie im Urteil des im September scheidenden SNB-Chefs Thomas Jordan weiter in die Deflation sinken könnte.

Im Februar betrug die Teuerung noch 1,2%, und das ist in etwa auch das Niveau, welches die Schweizer Notenbank für die kommenden zwei Jahre prognostiziert – unter der (theoretischen) Annahme, dass der Leitzins auf dem aktuellen Niveau von 1,5% verharren würde. Ob solcher Fakten müsste eigentlich mehr die Überraschung der Ökonomen überraschen als die Leitzinssenkung der Franken-Wächter.

Offensichtlich ist der Kontrast zur öffentlichen Reaktion auf die US-Notenbank, die sich am Tag davor entschieden hatte, nicht an der Zinsschraube zu drehen. Mit einer Jahresteuerung in den USA von 3,2% im Februar konnte niemand ernsthaft glauben, dass in Amerika der Zeitpunkt für die Zinswende schon gekommen sei. Umso weniger, als die Inflation im Vergleich zum Vormonat sogar wieder leicht angestiegen war. Wenn die Fed mit etwas überraschte, dann eher mit ihren Andeutungen, dass auch sie sehr bald die Zinswende einleiten werde.

Wie es scheint, hat man sich im finanzmarktnahen Ökonomenkreis inzwischen schon sehr auf das Denken versteift, dass die Grundlage für geldpolitische Entscheidungen nicht die aktuelle wirtschaftliche Lage ist, sondern Zinsentscheidungen – bzw. die von den Notenbanken selbst gelieferte Begründung dafür – vor allem darauf abzielen, die Situation in der Zukunft zu beeinflussen.

Diese Art von geldpolitischer Fernsteuerung trägt gar nicht zufällig einen englischen Namen: „Forward Guidance“. Das ist eine amerikanische Erfindung, und sie ist inzwischen bei vielen Notenbanken hoch im Kurs. Ihr Siegeszug begann vor 16 Jahren, in den dunklen Zeiten der Finanzkrise, die das globale Zinsgefüge aus den Angeln hob.

Die Nationalbank hat bei diesem Trend nie mitgemacht, wie SNB-Chef Thomas Jordan auf den Pressekonferenzen immer wieder klar und deutlich zu verstehen gab. Die Franken-Hüter genießen das Privileg, sich geldpolitisch voll und ganz auf eine einzige Aufgabe konzentrieren zu können: das Mandat, die Preisentwicklung unter Kontrolle zu halten. Das Privileg ist vordergründig dem gesetzlichen Auftrag, vor allem aber den gesunden Schweizer Bundesfinanzen und einer konsequent langweiligen, aber verlässlichen Wirtschaftspolitik geschuldet.

Gewiss, Forward Guidance hat Charme für Akteure in Politik und Finanzmarkt. Sie kann mindestens in der Theorie helfen, die Folgen fiskal- oder konjunkturpolitischer Fehlentscheidungen einzudämmen, ohne dass die langfristig unumgänglichen Korrekturen sofort vorgenommen werden müssen. Aber die Erfinder der Fernsteuerung von Markterwartungen haben selbst längst genügend Beispiele geliefert, dass diese Politik ins Auge gehen kann.

Die klare Aufgabenverteilung zwischen Geld-, Fiskal- und Wirtschaftspolitik ermöglicht es der Schweizer Nationalbank, den Leitzins genau dann zu verändern, wenn es die aktuelle Lage erfordert. Darum war sie bei der ersten Leitzinserhöhung im Herbst 2022 allen voraus, und darum ist sie auch diesmal die schnellste – zum Leidwesen der Ökonomenzunft, die zum eigenen Nutzen und dem Nutzen ihrer Klientel lieber etwas Vorlauf hätte.