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Angemessene Gehälter und Mindestlöhne

Während Regierungschef Attal Frankreich "entsmicardisieren" will, weil der Anteil der Bezieher von Mindestlöhnen steigt, führt Michelin ein angemessenes Gehalt für alle Mitarbeiter weltweit ein.

Angemessene Gehälter und Mindestlöhne

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Angemessene Gehälter

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Von Gesche Wüpper, Paris

Über Geld spricht man nicht. Vor allem nicht darüber, wie viel man verdient. In Frankreich ist es noch immer ein weit verbreitetes Tabu, über sein Gehalt zu reden. Soziologen erklären dieses Phänomen mit der katholischen und agrarwirtschaftlich geprägten Vergangenheit des Landes. Denn die katholische Kirche lobte ein Leben in Armut, während Bauern ihr Geld versteckten, um nicht bestohlen zu werden.

Trotz dieser Tradition haben Gehälter in letzter Zeit die öffentliche Debatte dominiert. So sorgte das Gehalt von Stellantis-Chef Carlos Tavares bei etlichen Franzosen für Empörung. Die Aktionäre segneten es dennoch auf der Hauptversammlung ab. Rückendeckung für Tavares gab es von Michel-Édouard Leclerc, dem Chef des gleichnamigen Einzelhandelskonzerns. Tavares sei ein Genie, der Kylian Mbappé der Automobilbranche, sagte er im Radio. Wenn es niemanden schockiere, dass Fußballstars so viel verdienten, schockiere es ihn auch nicht, wenn ein genialer Manager wie Tavares 36,5 Mill. Euro bekomme.

Michelin heizt Debatte an

Im Schnitt verdienten CAC-40-Manager zuletzt 6,7 Mill. Euro pro Jahr, das 299-Fache des Mindestlohns Smic (salaire minimum interprofessionnel de croissance). Dieser beträgt derzeit 1.766,92 Euro brutto monatlich und 21.203 Euro pro Jahr, was netto 1.398,69 Euro entspricht. Frankreich zu „entsmicardisieren“, lautet jedoch das Ziel von Premierminister Gabriel Attal. Denn viele Unternehmen zahlen ihren Mitarbeitern nur etwas mehr als den Mindestlohn, während die Zahl der Arbeitnehmer in der Privatwirtschaft zunimmt, die den Smic beziehen. Zuletzt waren es 3,1 Millionen, der Agrarsektor ausgeschlossen. Der Anteil von Smic-Verdienern ist von 12% 2021 auf zuletzt 17,3% gestiegen. Attal will nun bis zum Sommer Vorschläge präsentieren, wie Unternehmen angeregt werden sollen, höhere Gehälter zu zahlen.

Michelin-Chef Florent Menegaux hat die Debatte gerade zusätzlich angeheizt. Denn der Reifenkonzern will 2024 einen angemessenen Lohn für alle 132.000 Mitarbeiter weltweit einführen. Es dürfe nicht angehen, dass die Arbeit Menschen in den Überlebensmodus versetze, weil sie nicht angemessen entlohnt würden, sagte er Journalisten in Clermont-Ferrand. „Wenn Leute Angst haben, dass sie finanziell nicht mehr mithalten können, höhlt das Unternehmen von innen aus.“

Das angemessene Gehalt von Michelin basiert auf den Empfehlungen von Fair Wage Network und ist so berechnet, dass eine vierköpfige Familie davon leben kann. Michelin sei sich während der Coronakrise bewusst geworden, dass Familien in vielen Ländern ums Überleben bangen mussten, weil ein Gehalt weggefallen sei, berichtete Menegaux. Aber auch mit dem Mindestlohn komme man nicht weit, findet Michelin. Vor allem nicht in teuren Metropolen wie Paris. Der CAC-40-Konzern hat seinen angemessenen Lohn an die Standorte angepasst. In Paris beträgt er 39.639 Euro pro Jahr, in Clermont-Ferrand 25.356 Euro, in Greenville in den USA 42.235 Dollar und in China 9.000 Euro.

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