CursivWirtschaftspolitik

Tabula rasa für den Standort Deutschland

Die Wachstumsschwäche der deutschen Wirtschaft ist tektonischer Natur. Nur ein Ruck in Politik und Gesellschaft, wie einst 1997 vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog gefordert, kann den Standort noch retten und für die nächste Phase der Digitalisierung bereitmachen.

Tabula rasa für den Standort Deutschland

Tabula rasa für den Standort Deutschland

Die Wachstumsschwäche ist tektonischer Natur. Nur ein Ruck in Politik und Gesellschaft kann den Standort noch retten.

Von Stephan Lorz, Frankfurt

Seit vielen Monaten macht die deutsche Wirtschaft eine Wachstumsschwäche durch, und der Bundesregierung fällt nichts anderes ein, als über deren Ursachen zu streiten: Die einen sehen darin nur eine temporäre Konjunkturschwäche. Bundeskanzler Olaf Scholz betont, die Lage werde nur schlechtgeredet. Die meisten aber halten es eher für ein strukturelles Problem im Zusammenspiel von hohen Steuern, zu wenig Investitionen, zu viel Planwirtschaft und Überbürokratisierung.

Selbst DIW-Chef Marcel Fratzscher, der bislang eher die Sichtweise der Gesundbeter gestützt hat, scheint umzuschwenken. Diesen Eindruck vermittelt zumindest sein Auftritt beim Coface-Länderkongress in Mainz. Scharf kritisierte er die Hürden für Investitionen, wie sie auch von FDP und Unternehmensverbänden immer wieder angeführt werden: zu hohe Steuern, schlechte Infrastruktur, zu wenig Anreize für Innovationen, unzureichende Digitalisierung, fehlende Fachkräfte und eine Bürokratie, die Genehmigungsprozesse verzögert, verteuert und verhindert.

Neubewertung des Denkens und Handelns nötig

Fratzscher vergleicht die Lage mit 1997 und der „Ruck-Rede“ des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog. Dieser sprach von einer „unglaublichen mentalen Depression“ und stellte darauf ab, dass es nicht nur einen politischen Schwenk braucht für mehr Wachstum und Dynamik in der Wirtschaft, sondern eine grundlegende Haltungsänderung in Politik, Unternehmen und bei Bürgern hin zu mehr Entdeckergeist, Risikofreude, Ehrgeiz und Eigenverantwortung.

Zu dieser „Tabula rasa“ gehört eine Neubewertung bisherigen Denkens und Handelns. Die Politik muss hier vorbildhaft zunächst ihre eigenen Versäumnisse abräumen, was Investitionen, Innovationen und Infrastruktur verhindert und belastet. Seinerzeit hatte das die Bundesregierung gewagt und mit den Hartz-Reformen, welche den bisherigen politischen Überzeugungen der SPD widersprochen hatten, eine lange anhaltende wirtschaftliche Dynamik entfacht.

Streichung von Subventionen

Ein politisches Umsteuern wird mit Blick auf die aktuelle Steuerschätzung, die viel weniger Staatseinnahmen prognostiziert als erwartet, natürlich schwierig, weil es nun am finanziellen Schmiermittel fehlt. Aber vielleicht ist das auch besser so: Ifo-Präsident Clemens Fuest schlägt eine pauschale Streichung aller Subventionen um 15% vor, was der momentanen wirtschaftlichen Lage und der strukturell verfahrenen Situation durchaus angemessen wäre. Das Geld solle exklusiv für mehr Investitionen hergenommen werden. Ein schlauer Zug: Denn auf einzelne Streichungen könnte man sich in der Ampel-Regierung angesichts der in den Parteien vertretenen Interessengruppen wohl ohnehin kaum einigen. Und wenn, kämen nur „Peanuts“ heraus.

Damit ginge tatsächlich ein „Ruck“ durch Deutschland. Zum einen, weil gezeigt würde, dass die Berliner Demokratie in der Lage ist, in verfahrener Situation auch unkonventionelle Wege zu gehen. Das Vertrauen ausländischer Investoren in den Standort käme zurück. Und womöglich würden dann auch viele Hochqualifizierte wieder zuversichtlicher und suchten ihr Heil nicht mehr im Ausland. Womöglich wäre Deutschland dann auch Ziel vieler weiterer Fachkräfte und Spezialisten, um hier an der Modernisierung des Standorts mitzuwirken. Zum anderen wirkte es auch nach innen, würde zu einem Mentalitätswandel beitragen und gerade bei den jungen Menschen, die Studien zufolge von Zukunftsangst geprägt sind, wieder Zukunftsvertrauen aufkeimen lassen.

Denn „modern“ wird der Standort nicht, wenn die Bürger in soziale Rundum-sorglos-Pakete eingeschnürt werden. Vielmehr muss eine Gesellschaft Veränderungen offensiv begrüßen. Denn genau das, so der Münchner Soziologe Armin Nassehi auf der Coface-Tagung, hätten die Deutschen verlernt. Ihnen fehle die Lust am Risiko, das spielerische Herangehen an Neues. Oder, wie es die KI-Expertin Feiyu Xu im Hinblick auf den KI-Standort ausdrückte: Neben den finanziellen Mitteln fehle ihnen die Hingabe. Die deutsche Gesellschaft habe es sich zu bequem eingerichtet, um für völlig neue Geschäftsmodelle bereit zu sein. Ein Subventionsruck würde sie vielleicht aufwecken.

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