JSA 2025 Autohersteller verlagern Produktion

Alarm am Standort Deutschland

Die Autoindustrie steckt in der Krise. Hersteller wie VW und Mercedes-Benz streichen Stellen und kappen Produktionskapazitäten im Heimatmarkt. Im Ausland locken attraktive Bedingungen.

Alarm am Standort Deutschland

Alarm am Standort Deutschland

Die Autoindustrie steckt in der Krise. Hersteller wie VW und Mercedes-Benz streichen Stellen und kappen Produktionskapazitäten im Heimatmarkt. Im Ausland locken attraktive Bedingungen.

Von Carsten Steevens, Hamburg, und Joachim Herr, München

Als am 29. März 1974 die Serienproduktion des Golf in Wolfsburg begann, war noch nicht abzusehen, dass der Nachfolger des seit 1945 bis dato fast zwölf Millionen Mal im Stammwerk gebauten Käfers zum erfolgreichsten Volkswagen und bis heute meistverkauften Auto in Europa werden würde. Mehr als 37 Millionen Exemplare liefen in den ersten 50 Jahren vom Band, davon 20 Millionen am Mittellandkanal. Der Golf setzte die Käfer-Tradition bezahlbarer Mobilität fort. Und er avancierte zu einem Garanten für Arbeitsplätze.

Den Status als volumenstärkstes Modell im VW-Konzern hat der Golf längst eingebüßt. Die Auslieferungen des einstigen Bestsellers, der in acht Generationen in acht Ländern produziert worden ist, sind seit 2015 um mehr als 75% gesunken – auf wohl rund 250.000 Fahrzeuge im abgelaufenen Jahr. Während die Nachfrage nach Geländelimousinen (SUV) zulegte, schrumpfte das Segment der Kompaktlimousinen. Um für eine auskömmliche Auslastung des Stammwerks zu sorgen, entschied VW 2024, Platz zu schaffen für zukunftsträchtige Elektroprodukte. So könnte die Fertigung der Verbrennerversion des Golf 2027 nach Mexiko weichen – dorthin, wo im Juli 2003 der letzte VW Käfer vom Montageband lief.

Günstiger vom Band in Spanien...

Ob künftig ein in Deutschland gefertigtes Elektro-Modell von VW in ähnlicher Form an die Bestseller-Tradition von Käfer und Golf anknüpfen wird? Offen. 2026 will Europas größter Fahrzeugbauer Elektromobilität mit dem Start seiner „Electric Urban Car Family“ für mehr Käufergruppen erschwinglich machen. Vier Modelle der Marken Volkswagen, Cupra und Skoda sollen mit Einstiegspreisen unter 25.000 Euro (ID.Polo) bzw. ab 26.000 Euro (ID.Cross, Cupra Raval, Skoda Epiq) in Europa auf den Markt kommen. Die Ambition: Mittelfristig strebt der VW-Konzern im elektrischen Kleinwagensegment in Europa einen Marktanteil von rund 20% an.

Vor dem Golf lange der Beststeller von Volkswagen: der Käfer. Im August 1955 polieren Arbeiter im Wolfsburger Werk das millionste Exemplar.
picture alliance/AP

Produziert werden die vier Elektromodelle aber nicht in Wolfsburg, Emden oder Zwickau, sondern in den spanischen Werken Martorell und Pamplona – beliefert mit der neuen Einheitszelle des konzerneigenen Batterieherstellers Powerco sowie von externen Zellenproduzenten. Für die Arbeitnehmervertretung von VW in Wolfsburg ist das akzeptabel: Die Produktion des letzten in Deutschland gefertigten VW-Einstiegsmodells, des VW Lupo, liege schon 25 Jahre zurück, heißt es auf Nachfrage. An den deutschen VW-Standorten konzentriere man sich seit vielen Jahren auf die Produktion „komplexer, variantenreicher Fahrzeuge“.

Im VW-Konzern ist der Inlandsanteil an der Gesamtproduktion von 26,8% im Jahr 2015 auf 18,8% im Jahr 2024 geschrumpft. Deutschland brauche sich aber mit Blick auf die bestverkauften Konzernmodelle aktuell wie auch mit Blick auf die künftige Lokalisierung geplanter Elektro-Nachfolger wie ID.Golf oder ID.Roc nicht zu verstecken, betont der Betriebsrat. Für das Stammwerk sind zwei Elektro-Volumenmodelle vorgesehen: „Wolfsburg wird Golfsburg bleiben“.

„Herzstück unserer Wirtschaft“

Doch bei aller demonstrativen Zuversicht: Der Absatz- und Ergebniseinbruch der Autohersteller und Zulieferer in Deutschland sowie die Verunsicherung der Verbraucher ebenso wie der Beschäftigten alarmiert die Politik. Europas Neuwagenmarkt liegt um rund 2 Millionen Fahrzeuge unter dem Niveau von 2019. Mit einer nennenswerten Erholung in den kommenden Jahren wird nicht gerechnet. Es gehe um die Zukunft der Autoindustrie als „Herzstück unserer Wirtschaft“, als „Innovationsmotor und Garant für Wohlstand“, so Olaf Lies, der niedersächsische Ministerpräsident und Mitglied im Aufsichtsrat von VW, anlässlich eines „Auto-Gipfels“ im Bundeskanzleramt. Es gehe „um hunderttausende Arbeitsplätze, um Wertschöpfung in unseren Regionen und deshalb um die Zukunft unseres Wirtschaftsstandorts“.

Die Sorgen sind in Niedersachsen besonders groß: Jeder dritte Industriearbeitsplatz hängt dort direkt oder indirekt am Auto. VW hat angekündigt, bis 2030 an den zehn deutschen Standorten der Volkswagen AG und der Produktionsgesellschaften Sachsen GmbH und Osnabrück GmbH rund 35.000 von 130.000 Stellen sozialverträglich zu streichen und die Produktionskapazitäten der deutschen VW-Werke bis 2028 dauerhaft um 734.000 Fahrzeuge zu reduzieren – was laut dem Autohersteller fast drei großen Werken entspricht.

Massiver Stellenabbau

Dazu beitragen soll die gerade beendete Fahrzeugfertigung in Dresden sowie das 2027 geplante Aus in Osnabrück. Seit Anfang 2025 seien die Fabrikkosten in den fahrzeugproduzierenden VW-Werken Wolfsburg, Zwickau und Emden um fast 30% gesunken, teilt ein Konzernsprecher mit. Mehr als 25.000 der bis 2030 angestrebten Austritte von Arbeitskräften seien bereits vertraglich fixiert. Zugleich wird im Mehrmarkenunternehmen auch an anderen Orten gekürzt: Neben der Schließung des Werks in Brüssel reduziert Audi Kapazitäten in Ingolstadt und Neckarsulm. Der Premiumhersteller will bis 2029 rund 7.500 Arbeitsplätze hierzulande kappen, die Sportwagentochter Porsche 1.900 Stellen. Weitere Einschnitte könnten folgen.

Warnungen vor einer sich beschleunigenden Deindustrialisierung beziehen sich vor allem auf die Autobranche. Diese sei vom Stellenabbau in der deutschen Industrie besonders betroffen, so das Statistische Bundesamt (Destatis) im Herbst. Zum Ende des dritten Quartals 2025 waren demnach im Automobilsektor gut 48.700 weniger Menschen beschäftigt als noch ein Jahr zuvor. Ein Rückgang um 6,3%, der vor allem die Zulieferer betrifft.

Zulieferer streichen stärker

Die Krise der Branche, aber auch Abspaltungen innerhalb des Konzerns sowie geplante Veräußerungen von Unternehmensteilen wie Contitech haben etwa bei Continental im Laufe der vergangenen drei Jahre eine fünfstellige Zahl von Beschäftigten an deutschen Standorten betroffen. „Mittel- und langfristig erwarten wir, dass Continental sich klar dazu bekennt, die deutschen Standorte als Teil seiner globalen Reifenstrategie zu erhalten und zu entwickeln“, sagt Betriebsratschef Hasan Allak mit Blick auf die angestrebte Fokussierung des Dax-Unternehmens auf das Reifengeschäft. Ein Umbau des Konzerns dürfe nicht zu einem „schleichenden Abbau in Deutschland“ führen.

In keiner deutschen Industriebranche mit mehr als 200.000 Beschäftigten schrumpften die Belegschaftszahlen laut Destatis binnen Jahresfrist stärker als in der Autoindustrie. Den Statistikern zufolge blieb der Sektor per Ende September mit 721.400 Arbeitnehmern nach dem Maschinenbau (934.200) zwar die zweitgrößte Industriebranche. Ihre Beschäftigtenzahl rutschte aber auf den tiefsten Stand seit dem zweiten Quartal 2011.

Inlandsproduktion weiter rückläufig

Und es ist nicht abzusehen, dass sich an diesem Trend etwas ändert. Der Verband der Automobilindustrie rechnet in seinem Ausblick auf 2026 damit, dass die Inlandsproduktion um 1% auf 4,11 Millionen Pkw weiter zurückgeht. Dagegen werde die Produktion deutscher Konzernmarkten im Ausland um 1% auf 9,2 Millionen Einheiten zunehmen.

Auch der Branchenexperte Ferdinand Dudenhöffer, Direktor des Forschungsinstituts CAR, erwartet, dass der Produktionsanteil in Deutschland und Europa weiter sinkt. Er begründet das vor allem mit den hohen Fertigungskapazitäten in China und Verlagerungen in die USA als Reaktion auf die Zollpolitik von Präsident Donald Trump. Laut der CAR-Prognose schrumpft die Zahl der Beschäftigten in der deutschen Autoindustrie von rund 720.000 bis Anfang 2027 auf 650.000.

70 Prozent geringere Faktorkosten

Mercedes-Benz reagiert auf die Nachfrageschwäche und den deutlich langsameren Wandel zur Elektromobilität mit einem erheblichen Abbau der Produktionskapazität. Global soll sie von 2,5 Millionen Pkw im Jahr bis 2027 auf 2 bis 2,2 Millionen sinken. In Deutschland ist eine Reduzierung um 100.000 Autos auf 900.000 geplant. Damit verbunden ist ein Abbau von Arbeitsplätzen, den der Stuttgarter Konzern aber nicht beziffert. Mit natürlicher Fluktuation, Abfindungen für freiwillige Ausscheidende und dem Auslaufen befristeter Arbeitsverträge sollen Stellen wegfallen.

Die Absicht, ein Werk in Deutschland zu schließen, gebe es nicht, beteuerte der Vorstand. Hierzulande beschäftigte Mercedes-Benz Ende 2024 etwa 110.000 der insgesamt 175.000 Mitarbeiter. Während in Deutschland und anderswo die Kapazitäten verringert werden, baut der Konzern seine Fertigung im Werk in Kecskemét in Ungarn aus. 2024 wurden dort 146.000 Autos der Einstiegsklasse (Entry) produziert, darunter das CLA Coupé mit Verbrennungsmotor und den vollelektrischen EQB. Vom zweiten Quartal 2026 an fertigt das Unternehmen dort auch ein Modell des Kernsegments (Core): die neue elektrische C-Klasse.

In Kecskemét produziert Mercedes-Benz den neuen GLB.
Foto: Mercedes-Benz

Nach Aussagen von Finanzvorstand Harald Wilhelm kann Mercedes-Benz dort erheblich günstiger produzieren: Die Faktorkosten seien rund 70% niedriger als in Deutschland. Das umfasst Personal-, Betriebs- und Energiekosten. Die Differenz erklärt Mercedes-Benz im Wesentlichen mit der höheren Effizienz und Produktivität in Ungarn. Gründe für die geringeren Personalkosten seien auch Unterschiede in der tariflichen Regelarbeitszeit und der Abwesenheiten wegen Krankheit.

... und in Ungarn

In Kecskemét produziert Mercedes-Benz seit 2012. Derzeit sind dort rund 4.500 Beschäftigte. Den Standort Ungarn wertet der Konzern nicht nur mit der C-Klasse auf, sondern auch mit einem Entwicklungszentrum. Im November wurde der Bau angekündigt. 10 Mill. Euro, etwa ein Fünftel des Gesamtprojekts, steuert der ungarische Staat mit Fördermitteln bei, unter anderem in die Entwicklung von Prototypen. Seit 2022 hat Mercedes-Benz nach eigenen Angaben mehr als 1 Mrd. Euro in Kecskemét investiert.

Auch auf der Landkarte der Standorte von BMW ist Ungarn eingezeichnet. Das erste Serienmodell der sogenannten Neuen Klasse, den vollelektrischen SUV iX3, baut BMW im neuen Werk in Debrecen. Batteriezellen liefert der chinesische Branchenprimus CATL, der ebenfalls in Debrecen eine Fabrik errichtet hat. Kunde ist auch Mercedes-Benz. Der größte chinesische Autohersteller BYD ist ebenfalls dort. Im zweiten Quartal des nächsten Jahres will das Unternehmen in Szeged mit ein paar Monaten Verzögerung seine erste Produktion in Europa starten.

Politik verknüpft Hilfe mit Erwartungen

Wie attraktiv Herstellern der Standort Deutschland langfristig für die Produktion von E-Fahrzeugen erscheint, wird von Planungssicherheit sowie von wettbewerbsfähigen und innovationsfreundlichen Rahmenbedingungen abhängen. Ob die vor Weihnachten vorgeschlagene Aufweichung eines faktischen Verbrennerverbots durch die Europäische Kommission der kriselnden deutschen Autoindustrie hilft, ist umstritten. Bundesregierung sowie Autoländer wie Baden-Württemberg, Bayern und Niedersachsen haben im Interesse der Branche für dynamische CO₂-Flottengrenzwerte, die sich an Infrastruktur, Energieverfügbarkeit und technologischem Fortschritt orientieren, und für technologische Optionen wie Plug-in-Hybride und Fahrzeuge mit Range Extendern über 2035 hinaus geworben. Die Erwartung an die Hersteller: in Deutschland investieren, Standorte und Beschäftigung sichern. Eine wichtige Voraussetzung wäre jedoch auch für BMW, Mercedes-Benz und VW, dass die deutsche Wirtschaft wieder wächst.

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