IM INTERVIEW: ANDREAS RENSCHLER

In Unterschiede "zu viel hineininterpretiert"

Der Truck-Chef von Volkswagen über das Zusammenspiel der Marken MAN und Scania, die Dieselkrise und die globale Präsenz

In Unterschiede "zu viel hineininterpretiert"

– Herr Renschler, EU-Kartellverfahren, Dieselabgasaffäre: Wie viel Zeit müssen Sie derzeit für Vergangenheitsbewältigung aufbringen?Es bleibt genug Zeit, um den Aufgaben als Chef des Nutzfahrzeuggeschäfts von Volkswagen nachzukommen.- Wie bewerten Sie die von der EU-Kommission verhängte Geldbuße von 880 Mill. Euro, die Scania wegen Absprachen mit anderen Lastwagenbauern zahlen soll?Die Geldbuße hält Scania für ungerechtfertigt. Scania hat sich deshalb entschieden, Rechtsmittel dagegen einzulegen.- Sie haben bereits Rückstellungen von rund 400 Mill. Euro gebildet. Müssen Sie nachlegen?Der Europäische Gerichtshof wird sich mit dem Fall zu beschäftigen haben. Das Verfahren könnte sich über drei bis fünf Jahre hinziehen. Wie es ausgehen wird, wissen wir nicht. Natürlich müssen wir das weiter beobachten, aber aus heutiger Sicht sehen wir keine Veranlassung, weitere Rückstellungen zu bilden.- Wie sieht es mit anderen Belastungen in diesem Jahr aus? Wie entwickelt sich der Problemmarkt Brasilien?Der Markt beginnt sich zu erholen. Der Absatz in Brasilien entwickelt sich in diesem Jahr erstmals wieder erfreulich. Die Auslastung steigt, was auch auf zunehmende Exporte zurückzuführen ist. Im Juli sind wir in der Produktion zur Fünftagewoche zurückgekehrt. Im September haben wir den neuen Volkswagen Delivery vorgestellt, eine komplette Neuentwicklung, die uns in Brasilien voranbringen sollte. In unserem Werk in Resende haben wir rund 300 neue Stellen geschaffen. Das zeigt: Wir bekennen uns zu Brasilien. Es ist Licht am Ende des Tunnels zu erkennen.- Wann schreiben Sie in Brasilien schwarze Zahlen?Wenn alles gut läuft, im kommenden Jahr. Dabei profitieren wir verglichen mit anderen auch von unserer Kostenstruktur in Brasilien. Wir wollen in den nächsten Jahren profitabel wachsen.- Welches ist derzeit der schwierigste Markt?Der Mittlere Osten einschließlich der Türkei. Wesentliche andere Regionen entwickeln sich positiv. Europa ist derzeit stabil. Russland scheint die Talsohle hinter sich zu lassen, China läuft ordentlich, und Lateinamerika geht in die richtige Richtung.- Wie sieht die Absatz- und die operative Ergebnisentwicklung nach dem dritten Quartal aus?Im ersten Halbjahr konnten wir den Absatz um 8 % auf 96 000 Fahrzeuge und auch die operative Rendite deutlich steigern. Dieser Trend scheint sich fortzusetzen. Wir rechnen insgesamt mit einem guten Geschäftsjahr.- Sie wollen zu Beginn des nächsten Jahrzehnts eine zyklusübergreifende Umsatzrendite von 9 % erreichen? Ist das aus heutiger Sicht realistisch?Das ist in jedem Fall realistisch. Wir verbessern die Performance und Zusammenarbeit unserer Marken und setzen unsere Global-Champion-Strategie Schritt für Schritt um. Ein Meilenstein ist die strategische Partnerschaft mit Navistar. Weitere Meilensteine werden folgen. Und wir werden die Gruppe von einer Start-up-Organisation weiterentwickeln zu einer reifen, leistungsfähigen Gruppe mit starken Marken und Partnern. Das Ergebnisziel können wir nur erreichen, wenn die Substanz stimmt.- Wie funktioniert denn das Zusammenspiel der Marken?Es gibt noch viel zu tun. Das ist in dem Stadium, in dem wir uns befinden, normal. Die Gruppe haben wir erst vor zwei Jahren begonnen, aufzubauen. Die Global-Champion-Strategie haben wir vor 18 Monaten aufgesetzt.- Was haben Sie seitdem erreicht?Wir haben die Komponenten- oder Plattformstrategie verabschiedet und die notwendigen Projekte initiiert. Skaleneffekte lassen sich nur realisieren, indem wir die Komponenten in der Basisentwicklung in der Gruppe zusammenführen: Motoren, Getriebe, das After Treatment, Achsen und Elektronik. Diese Komponenten machen rund 60 % des Wertes eines Lkws aus.- Kommen Sie schnell genug voran oder ärgern Sie sich über Beharrungskräfte, die bremsen?In die Unterschiede zwischen den einzelnen Marken wird zu viel hineininterpretiert. Trucker sind pragmatische Menschen, und auch die Hersteller sind pragmatisch.- Kommen die Kulturen jetzt zusammen?Ich will die Kulturen unserer Nutzfahrzeugmarken nicht per se zusammenbringen. Wir wollen keinen deutsch-schwedischen Mischmasch. Wir wollen keinen Vertrieb, der morgens MAN verkauft und mittags Scania. In der seit zwei Jahren bestehenden Gruppe, Volkswagen Truck & Bus, in der wir unsere Marken bündeln, haben wir ein Wertesystem für die Zusammenarbeit entwickelt. Es gibt regional unterschiedliche Kulturen, ja. Aber jede Marke weiß, dass sie Teil eines größeren Ganzen ist und nicht nur eine vollkommen unabhängige Marke.- Und diese neue Welt wird gelebt?Ja, absolut.- Wie beurteilen Sie den Fortschritt der Restrukturierung von MAN?MAN musste in den vergangenen Jahren Hausaufgaben erledigen. Das Zukunftsprogramm “Pace” wird bis Ende dieses Jahres umgesetzt sein. Wir erwarten eine Ergebnisverbesserung von 880 Mill. Euro verglichen mit 2014. Gegenläufige Entwicklungen sind hierbei zu berücksichtigen. Der CEO Joachim Drees hat da einen hervorragenden Job gemacht seit seinem Antritt 2015.- Erstmals kommen die Marken nun zu einem “Innovation Day” von Volkswagen Truck & Bus zusammen. Warum diese Aktion?Wir setzen ein Zeichen. Wir machen Ernst mit dem Vorhaben, ein globaler Champion zu werden. Die Projekte in den drei Bereichen Automatisierung, Vernetzung und sauberer Transport sind aufgesetzt und beginnen Früchte zu tragen. Wir reden hier nicht über irgendwelche Visionen. Wir stellen Produkte vor, die tatsächlich an Kunden ausgeliefert werden oder nahe davor sind.- Stichwort sauberer Transport: Der VW-Konzern hat sich gerade zu seinen Investitionsplänen für den Ausbau der Elektromobilität bis 2025 geäußert. Was plant die Truck-Sparte?Wir müssen im Nutzfahrzeugbereich kein großes Programm für alternative Antriebe starten. Wir haben schon viel vorzuweisen. MAN und Scania sind biodieselfähig. Wir bieten Lkws mit Gas- und Hybridantrieb für den schweren Verteilerverkehr an. Wir haben den ersten Euro-6-Diesel mit Hybrid auf der Straße. Bei Stadtbussen bieten wir die gesamte Palette an alternativen Antrieben an. Und vom kommenden Jahr an sind Elektrobusse im Einsatz. Für die Entwicklung ist absolut entscheidend, ob sich für unsere Kunden ein Vorteil ergibt, ob Lösungen für sie finanziell tragbar sind. Denn für unsere Kunden zählt nur eines, nämlich mit einem Truck Geld zu verdienen. Das ist ein anderer Case als bei den Pkw.- Wie sieht es mit der Elektrifizierung konkret aus?Sie ist ein Teil unserer Aktivitäten und einer ganz konkreten Roadmap. Wir rollen nun Lösungen für den mittleren und schweren Verteilerverkehr in den Städten aus. Diese neuen E-Trucks haben eine Reichweite von 130 bis zu 200 Kilometern und sind prädestiniert für den urbanen Verteilerverkehr. Für die letzte Meile bringen wir gerade den E-Crafter auf die Straße. Im Fernverkehr sind so schnell keine effizienten batteriegetriebenen Fahrzeuge zu erwarten. Große Distanzen mit Batterien zu fahren geht heute nur, wenn man auf einen Teil der Ladefläche verzichtet. Elektromobilität als alleinige Lösung schlechthin wie beim Pkw wird es im Nutzfahrzeuggeschäft so nicht geben. Hier müssen wir genauer anschauen, für welchen Einsatz ein Fahrzeug gedacht ist, was aber nicht heißt, dass wir nicht an anderen Lösungen arbeiten.- Was bedeutet die Debatte um Fahrverbote für Dieselfahrzeuge in europäischen Kommunen konkret für die Nutzfahrzeugsparte von Volkswagen?Wir haben den Euro-6-Diesel schon seit einigen Jahren im Einsatz. Lkw und Busse auf Euro-6-Niveau weisen dank einer streng kontrollierten Absatzreinigung mit Partikelfilter und SCR-Technologie kaum Stickoxid-Emissionen auf. Die Debatte trifft uns als Hersteller nur insofern, dass sie eine rasche Bestandserneuerung älterer Fahrzeuge vorantreibt.- Und die Kohlendioxidbelastungen?Bei MAN- und Scania-Lkw sind die klimaschädlichen CO2-Emissionen in den vergangenen 20 Jahren um mehr als 25 % gesunken. Wir verbessern unsere Lkw auf dem Weg zum klimaneutralen Transport laufend. Und im urbanen Verkehr werden sukzessive alternative Antriebe und Kraftstoffe zum Einsatz kommen.- Was bedeuten Elektroquoten, wie sie Länder wie China planen, aus Ihrer Sicht?Ein Verbot für Fahrzeuge mit konventionellen Antrieben hilft im Lkw-Bereich nicht weiter. Wenn morgen entschieden würde, dass nur Nullemissionsfahrzeuge in Städten fahren dürfen, dann können wir solche Fahrzeuge liefern. Kein Problem. Es stellt sich aber die Frage, wie wir als Konsumenten dazu stehen, wenn plötzlich die Grundversorgung in Städten nicht mehr funktioniert. Logistikketten müssten grundlegend geändert werden. Logistikverteilzentren müssten vor den Städten entstehen, in denen Güter von Nullemissionsfahrzeugen aufgenommen werden. Das geht nicht von heute auf morgen. Und dabei ist noch gar nicht bedacht, dass die erforderliche Lade-Infrastruktur einfach noch nicht da ist. Da können wir als Lkw-Hersteller keinen Beitrag leisten. Im Fernverkehr wird die E-Mobilität für unsere Kunden noch lange keine wirtschaftlich sinnvolle Option sein.- Wie kommen Ihre Marken beim Thema vernetzte Fahrzeuge voran?Jeder neue Lkw, den MAN und Scania in Europa verkaufen, ist voll vernetzt. Über 300 000 unserer Trucks sind Stand heute auf Europas Straßen vernetzt unterwegs und ermöglichen damit unseren Kunden einen effizienteren Einsatz. In Europa sind wir, was vernetzte Lkws angeht, klarer Marktführer. Wir werden unsere Lösungen mit einer offenen und cloudbasierten Plattform, die gemeinsam von unseren Marken MAN, Scania und RIO entwickelt wird, vorantreiben. Mitte September hat unser strategischer Partner Navistar angekündigt, auf unsere RIO-Plattform zu gehen. Damit würden wir eine weltweit vernetzte Plattform schaffen, die nach Migration aller Marken rund 650 000 Fahrzeuge erfasst. Dieses größte globale Ökosystem für Nutzfahrzeuge wird ein Meilenstein in der Zusammenarbeit unserer Marken sein.- Wie lauten Ihre Ziele für das autonome Fahren?Wir entwickeln uns Schritt für Schritt. Wir haben eine Vielzahl von Pilotversuchen auf unterschiedlichen Ebenen gestartet. Im Bereich der industriellen Anwendungen wollen wir in den nächsten zwei Jahren serienreife Produkte erreichen. Im Bereich des Fernverkehrs ist das Platooning ein erster Schritt zum autonomen Fahren. Wir haben mit der Entwicklung eines Mehrmarkenstandards für gemischte Platoon-Züge von MAN und Scania begonnen. 2018 sollten wir damit fertig sein. Autopiloten in Lkws und Bussen erwarten wir spätestens 2022. Autonomes Fahren im städtischen Güterverkehr ist hingegen sehr komplex und stellt die höchsten Anforderungen in Sachen Sicherheit. Die technologische Entwicklung wird daher in diesem Bereich sicher länger dauern.- Wie werden Sie die Investitionen in neue Antriebe, in Digitalisierung und autonomes Fahren finanzieren?Wir finanzieren die Investitionen aus dem eigenen Geschäft. Wir können, weil wir verschiedene Marken haben, sehr gut Skaleneffekte nutzen. Zusätzliche Mittel von dritter Seite benötigen wir nicht.- Im Raum stehen Verkäufe von Teilen des VW-Konzerns, die als Randgeschäfte angesehen werden. In den vergangenen Monaten war die Augsburger MAN-Tochter Renk Gegenstand von Verkaufsspekulationen. Auch bei MAN Diesel & Turbo wurde spekuliert. Wie stehen Sie dazu?Es steht derzeit kein Verkauf an.- Und zu einem späteren Zeitpunkt?Man sollte niemals nie sagen. Das gilt für vieles, wenn nicht fast alles im Leben.- Auch für einen Börsengang der Truck-Sparte?Ja, auch dafür.- Wie läuft die 2016 begründete Allianz mit dem US-Nutzfahrzeughersteller Navistar?Wir sind insgesamt sehr zufrieden. Wir haben die ersten Motorenlieferungen vereinbart und wir haben weitere Projekte gemeinsam initiiert. An der Entwicklung gemeinsamer künftiger Plattformen ist nun auch Navistar beteiligt. Wir haben das angekündigte Einkaufs-Joint-Venture gegründet. Dort sind innerhalb kurzer Zeit – wie kooperieren ja erst seit diesem Frühjahr miteinander – entscheidende Einkaufsvorteile erarbeitet worden.- Wie wahrscheinlich ist eine Ausweitung der Beteiligung an Navistar?Wir haben uns im Rahmen einer Kapitalerhöhung eine strategische Beteiligung gesichert und haben vereinbart, dass diese bis zu 20 % ausmachen kann. Eine Aufstockung der Beteiligung darüber hinaus steht momentan nicht zur Diskussion. Auf dem Weg zum Global Champion stehen aber alle Optionen offen.- Mit der russischen GAZ-Gruppe wurde im Frühjahr eine Absichtserklärung vereinbart, um Möglichkeiten einer langfristigen strategischen Partnerschaft auszuloten. Wie ist der aktuelle Stand der Dinge?Wir prüfen derzeit noch, auf welchen Feldern wir zusammenarbeiten können. Ziel ist es, bis Ende dieses Jahres zu einem Ergebnis zu kommen. Bei den möglichen gemeinsamen Projekten geht es um schwere Lkw, um Fahrerhaus-Kabinen und um leichte Nutzfahrzeuge.- Wie bewerten Sie das Potenzial?Das Potenzial ist enorm, denn Russland ist ein sehr großer Lkw- und Transportermarkt und der russische Logistiksektor wächst.- Den Blick richtet Volkswagen Truck & Bus auch nach Asien. Wie realistisch ist es denn, dass die bestehende Partnerschaft und Beteiligung von MAN von 25 % und einer Aktie am Lkw-Hersteller Sinotruk erhöht wird?Wir sind in regelmäßigem Austausch, um die Partnerschaft zu stärken beziehungsweise zu intensivieren. Wir haben große Hoffnungen, denn Sinotruk ist ein sehr guter Partner.- Sie wollen Ihren unternehmerischen Einfluss stärken.Die bisherigen Verträge ermöglichen uns den heute gewünschten unternehmerischen Einfluss nicht, das ist richtig. Darüber sprechen wir derzeit und das kann erfahrungsgemäß in China etwas länger dauern.—-Das Interview führte Carsten Steevens.