Rigides Gesellschaftsrecht behindert Wagniskapitalfinanzierung
Rigides Gesellschaftsrecht behindert VC-Finanzierung
Von Luca Enriques, Casimiro Nigro
und Tobias Tröger
Märkte in Europa und Deutschland aktivieren – Deutlicher Rückstand im internationalen Vergleich – Ideen der EU weisen den Weg
Die Märkte für Wagniskapital in Europa und Deutschland hinken im internationalen Vergleich weit zurück. Es ist an der Zeit, sie zu aktivieren, um Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaften langfristig zu sichern. Dafür muss auch das Gesellschaftsrecht flexibler werden.
Wagniskapital (Venture Capital, VC) ist ein wesentlicher Treiber von Innovation und wirtschaftlichem Wachstum. Im internationalen Vergleich bleiben die europäischen VC-Märkte sowohl in ihrem Gesamtvolumen als auch beim Umfang der einzelnen Finanzierungsrunden hinter den US-amerikanischen und chinesischen Märkten deutlich zurück. Es ist daher zu begrüßen, dass nicht nur europäische Experten und ihre Reformvorschläge (z.B. der Draghi-Report), sondern auch der Koalitionsvertrag zwischen den neuen Regierungsparteien darauf abzielen, die Märkte für Wagniskapital in Europa und Deutschland zu aktivieren, um die Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaften langfristig zu sichern.
Übersehene Determinante
Rechtswissenschaftliche und finanzökonomische Studien haben die institutionellen Faktoren untersucht, die für die Entstehung und Entwicklung aktiver VC-Märkte verantwortlich sind. In den bisherigen Studien wurde jedoch die Rolle des Gesellschaftsrechts nicht systematisch beleuchtet. Hierdurch entsteht ein praktisch bedeutsamer blinder Fleck, weil das Verbandsrecht die Grundlage liefert, auf der Wagniskapitalgeber und Gründer ihre Beziehung rechtlich ausgestalten, um die für alle Beteiligten optimale Risikoverteilung rechtsförmig zu verankern und anreizkompatible Governance-Strukturen zu schaffen. Die Standardlösungen des kodifizierten Gesellschaftsrechts sind für die Bedürfnisse der Wagniskapitalfinanzierung weitgehend ungeeignet, sodass die weitreichende, privatautonome Derogation derselben für die effiziente Transaktionsgestaltung unverzichtbar ist. In unseren breit angelegten Untersuchungen schließen wir diese Lücke und zeigen, dass die Flexibilität des Gesellschaftsrechts eine entscheidende Rolle bei der Ermöglichung von VC-Investitionen spielt und dass sich deshalb rigide Verbandsrechtsordnungen nachteilig auf die Marktentwicklung und die Finanzierung von Innovation und Wachstum auswirken. Diese Erkenntnis hat Bedeutung für die eingangs genannten Reformprojekte.
Rechtsberatung hilft
Das Gesellschaftsrecht beeinflusst die Verhandlungen und Transaktionsstrukturen zwischen Wagniskapitalgebern und Gründern. Starres Recht, das eine Reihe zwingender Vorschriften vorsieht, behindert die privatautonome Gestaltung effizienter Finanzierungsbeziehungen durch Wagniskapitalgeber und schränkt auf diese Weise die Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft einer Volkswirtschaft ein.
Erfahrene Marktteilnehmer, insbesondere wenn sie durch spezialisierte Rechtsberater unterstützt werden, können ihre Interessen effektiv schützen. Gesellschaftsrecht ist vor diesem Hintergrund optimal flexibel für VC-Vertragsgestaltung, wenn es:
- Eine ermöglichende Grundhaltung einnimmt und privatautonome Lösungen durchsetzt, die VC-Transaktionen strukturieren;
- Mechanismen zur nachträglichen Lückenfüllung in den notwendig unvollständigen Parteivereinbarungen vermeidet, die vertragliche Rechte rückwirkend in einer Weise einschränken können, die mit der wirtschaftlichen Logik von VC-Vereinbarungen unvereinbar ist;
- Die missbräuchliche Ausübung vertraglicher Rechte verhindert, wobei „Missbrauch“ eigennütziges Verhalten bedeutet, das der wirtschaftlichen Grundlage des VC-Deals widerspricht.
Ein Rechtsrahmen, der privatautonomen Gestaltungen in der skizzierten Art und Weise gegenüber gesetzlichen Standardlösungen den Vorrang einräumt, verbessert die Fähigkeit der Vertragsparteien, ihre Rechte und Pflichten klar zu definieren und rechtliche Unsicherheit zu minimieren. Ein in diesem Sinne ideal VC-freundliches Gesellschaftsrecht erlaubt hinreichend erfahrenen Vertragsparteien, wertmaximierende privatautonome Vereinbarungen zu treffen.
Negative Folgen
Reale Gesellschaftsrechtsordnungen weichen oft von diesem VC-freundlichen Gesellschaftsrechtsparadigma ab und legen Wagniskapitalgebern und Unternehmern rechtliche Beschränkungen auf, die ihre Fähigkeit erheblich beeinflussen, Vereinbarungen zu schließen, die Risiken und Governancerechte optimal allokieren. Dies gilt insbesondere, wenn die nationalen juristischen Methoden es Rechtswissenschaftlern und Gerichten ermöglichen, ungeschriebenes zwingendes Recht zu konstruieren. Derartige rechtliche Beschränkungen können die Vertragsparteien nicht nur daran hindern, Lösungen zu imitieren, die sich auf dem US-amerikanischen Markt bewährt haben. Sie können die Beteiligten auch davon abhalten, auf nationalen Rechtsinstituten aufbauende, funktional gleichwertige oder zwar nicht äquivalente, aber zumindest teilweise effektive, alternative Gestaltungen zu vereinbaren.
Zwingendes Gesellschaftsrecht kann sich direkt negativ auf privatautonome Gestaltungen in der VC-Finanzierung auswirken, wenn es Gestaltungsverbote normiert, die entweder absolut oder relativ sind:
- Absolute Verbote hindern Vertragsparteien daran, eine bestimmte privatautonome Regelung in ihren Vertrag aufzunehmen und – möglicherweise auf der Grundlage allgemeiner Umgehungsverbote oder anderer rechtsdogmatischer Institute – auch funktional gleichwertige Lösungen oder auch nur inferiore alternative Arrangements zu vereinbaren.
- Relative Verbote schließen die Durchführbarkeit einer bestimmten privatautonomen Lösung aus, erlauben den Vertragsparteien jedoch zumindest, funktional inferiore alternative Arrangements zu vereinbaren.
Wenn nur funktional nicht äquivalente, alternative Arrangements verfügbar sind, oder, schlimmer noch, wenn selbst diese Arrangements nicht vereinbart werden können, beeinträchtigen gesellschaftsrechtliche Einschränkungen die Fähigkeit der Parteien, ihre wirtschaftlichen Ziele durch privatautonome Gestaltungen zu erreichen. Dies mindert den Wert der Verträge und wirkt sich nachteilig auf die Durchführung der Transaktion aus.
Zwingendes Gesellschaftsrecht kann sich aber auch indirekt negativ auf privatautonome Gestaltungen auswirken, wenn es Unsicherheit über die Gültigkeit und/oder Durchsetzbarkeit einer privatautonomen Lösung und/oder darüber bedingt, wie Vertragsparteien die vereinbarten Rechte ausüben dürfen. Je ausgeprägter die rechtliche Unsicherheit, desto bedeutender das Prozessrisiko. Und je bedeutender das Prozessrisiko, desto größer die Abnahme der vertraglichen Funktionalität und schließlich des Vertragswerts.
Grenzkosten steigen
Die Beteiligten, insbesondere erfahrene Wagniskapitalgeber antizipieren die beschriebenen Reibungsverluste und reagieren mit erhöhten Risikoprämien. Die Kapitalkosten für Gründer steigen, weshalb manche Wachstumsunternehmen nur eine geringere oder gar keine Finanzierung erhalten, obwohl der Erwartungswert der Investition bei optimaler Vertragsgestaltung unter ideal flexiblem Gesellschaftsrecht (stärker) positiv wäre. Starres Verbandsrecht erhöht die Grenzkosten der VC-Finanzierung und kann deshalb die Entwicklung tiefer und liquider VC-Märkte behindern, sodass manche aussichtsreichen Start-ups keine ausreichende Finanzierung finden.

Die Relevanz der von uns aufgezeigten Determinante der Marktentwicklung lässt sich verdeutlichen, wenn man die VC-Vertragsgestaltung unter US-amerikanischem (Delaware) und europäischen Gesellschaftsrechten vergleicht. Eine umfassende Analyse zeigt, dass die Starrheit des deutschen und italienischen Gesellschaftsrechts die Parteien zwingt, vertragliche Strukturen zu wählen, die weniger effizient sind als die in den USA üblichen.
Frage der Liquidationspräferenz
Die Zusammenhänge lassen sich anhand der rechtlichen Behandlung sogenannter Liquidationspräferenzen im deutschen Gesellschaftsrecht veranschaulichen. Die Satzungen von US-amerikanischen VC-finanzierten Unternehmen gewähren Wagniskapitalgebern einen vorrangigen Anspruch auf den Erlös, der z.B. bei einem Verkauf oder in der Liquidation des Unternehmens erzielt wird. Derartige Liquidationspräferenzen umfassen zunächst die ursprüngliche Investition und steigen im Laufe der Zeit aufgrund automatischer und kumulativer Dividenden. Sie liegen im beiderseitigen Interesse der Beteiligten. Gründer, die geringere Aussichten auf eine positive Rendite akzeptieren, signalisieren glaubwürdig ihre Entschlossenheit und ihren Glauben an die Qualität des Projekts. Dies erleichtert Wagniskapitalgebern, minderwertige Investitionsmöglichkeiten auszusortieren. Zudem motivieren Liquidationspräferenzen Gründer, das Projekt mit optimalem Einsatz umzusetzen, um in die Gewinnzone zu kommen.
Das deutsche Gesellschaftsrecht erlaubt keine echten Liquidationspräferenzen, da der Umfang der vorrangigen Cashflow-Rechte des Wagniskapitalgebers einer gerichtlichen Überprüfung unterliegt, was Unsicherheit darüber schafft, ob die vereinbarten Liquidationspräferenzen gerichtsfest sind. Die gerichtliche Intervention wird durch eine spezifische Interpretation allgemeiner Rechtsgrundsätze ermöglicht, die vermeintlich mit Treu und Glauben unvereinbare Ergebnisse zu Lasten der Gründer verhindern und dem Wagniskapitalgeber verwehren, einen „unverhältnismäßig“ hohen Anteil des Unternehmenswerts zu vereinnahmen. Eine solche rechtsethisch aufgeladene Sicht negiert aber die skizzierte wirtschaftliche Logik der Parteivereinbarungen.
Auslandssitz keine Lösung
Die praktische Bedeutung unserer Erkenntnisse kann nicht mit dem Argument relativiert werden, Wagniskapitalfinanzierer und Gründer könnten das Start-up einfach im Ausland inkorporieren, um restriktive inländische Gesellschaftsrechte zu umgehen. Eine solche Rechtswahl ist besonders für Unternehmen in frühen Phasen unpraktikabel, da sie originäre rechtliche Unsicherheiten birgt, die laufenden Compliance-Kosten substantiell erhöht und zudem unvollständig bleibt, weil sich die Anwendung des inländischen Gesellschaftsrechts nicht gänzlich ausschließen lässt.
Die Vertragsgestaltung ist in der VC-Welt auch nicht nur von begrenzter Bedeutung, obwohl die Beziehungen der Beteiligten auf Reputation und sozialen Bindungen basieren und es selten zu Rechtsstreitigkeiten zwischen den Marktteilnehmern kommt. Rechtsförmig durchsetzbare Verträge erweisen sich als wesentlich – besonders in Abschwungphasen – wenn ein Zusammenbruch der Beziehung zwischen der VC-Firma und dem Unternehmer droht. Sie begrenzen das Verlustrisiko in Abwärtsszenarien, sei es als Grundlage von Nachverhandlungen, sei es in (schieds-)gerichtlichen Auseinandersetzungen.
Bedeutung für die Reformagenda
Die durch die Starrheit des deutschen und italienischen Gesellschaftsrechts verursachten Probleme sind primär eine Konsequenz der Rechtsanwendung und -fortbildung in diesen Jurisdiktionen: Die Einschränkungen bei der Vertragsgestaltung entstehen durch ungeschriebene Regeln und Standards, die von Wissenschaftlern entwickelt und von der Rechtspraxis umgesetzt werden. Hinter diesem Phänomen steht eine allgemeine Skepsis gegenüber privatautonomen Gestaltungen, die glaubt, marktförmige Lösungen stets einer paternalistischen Kontrolle unterwerfen zu müssen. Vor diesem Hintergrund kann der Spielraum für wohlfahrtssteigernde privatautonome Gestaltungen in der VC-Finanzierung durch zielgenaue legislative Reformmaßnahmen durchaus erweitert werden.
Mustersatzung einführen
Denkbar ist zunächst, gesetzliche Bestimmungen zu verabschieden, die typische US-amerikanische Vertragsgestaltungen ausdrücklich vor einer nachträglichen Einmischung durch die Rechtspraxis, insbesondere die Gerichte schützen, soweit diese auf privatautonomie-feindlich aufgeladene, rechtsdogmatische Institute rekurriert. Noch erfolgversprechender erscheint die Einführung einer – an US-amerikanischen VC-Verträgen orientierten – Mustersatzung, die gesetzlich für vollständig durchsetzbar erklärt wird und somit dem Standardmodell folgende VC-Verträge vor jeglicher unangemessenen nachträglichen Intervention schützen würde. Beide Vorschläge gestatteten europäischen Risikokapitalgebern und Unternehmern, sich auf ihre Verträge zu verlassen, um die Governance-Struktur und Risikoverteilung ihrer Geschäftsbeziehungen abschließend zu definieren.
Diese Vorschläge variieren Ideen, die auch EU-Politiker und Organe zur Debatte gestellt haben, wenn sie ein 28. Regime für innovative Unternehmen fordern, wie erstmals im Letta-Bericht dargelegt und kürzlich von der Europäischen Kommission befürwortet. Ein solches Regime benötigt zwei wesentliche Merkmale, um erfolgreich zu sein. Erstens muss es als unabhängiges und abschließendes EU-Rechtsinstrument etabliert werden, das jede Rolle des nationalen Gesellschaftsrechts in Bereichen, die nicht durch die EU-Verordnung abgedeckt sind, eliminiert – eine Abkehr vom Modell des Europäischen Gesellschaftsstatuts. Zweitens sollte es privatautonome Lösungen von VC-Deals ausdrücklich vor gerichtlicher Einmischung schützen, möglicherweise durch die geschützte Mustersatzung, die wir vorschlagen.