Je schneller, desto besser?
Dragan RadanovicGeschäftsführer der Börse StuttgartDas Wichtigste an einer Börse sind die Preise, zu denen man handelt. Gegenüber Investment-Profis mit Highspeed-Leitungen und automatisch generierten Wertpapieraufträgen haben Privatanleger jedoch nicht überall die Aussicht auf den besten Preis. Die Börse Stuttgart sorgt für Chancengleichheit. Vor 20 Jahren ging es an der Börse wesentlich hektischer und lauter zu, vieles lief in Handarbeit. Bis Skontroführer und Händler der Banken alle Kurse festgestellt hatten, konnte es schon einmal dauern. Die Revolution im Börsenhandel kam mit der Automatisierung: Als die Börse Stuttgart Ende der 1990er Jahre eine elektronische Handelsplattform einführte, schnellte die durchschnittliche Geschwindigkeit bei der Orderausführung um bis zu 90 % nach oben. Kauf- und Verkaufsorders wurden jetzt minutenschnell abgearbeitet – dank automatischer Limit-Überwachung und Liquiditätsspende auf Knopfdruck. Heute werden rund zwei Drittel der Orders in verbrieften Derivaten an der Börse Stuttgart innerhalb von drei Sekunden ausgeführt, bei ETPs sind es sogar über 80 %. Geschwindigkeit ist zu einem entscheidenden Wert im Wertpapierhandel geworden: Die Uhren vieler Börsen ticken heute in Nanosekunden – sie haben sich damit auf Hochfrequenzhändler eingestellt, die möglichst schnell und automatisch Orders einstellen, ändern und löschen wollen. In Deutschland dürfte Schätzungen zufolge der Anteil des Algo-Tradings – also des algorithmischen Handels – bei etwa 60 % liegen. Darunter fällt auch der Hochfrequenzhandel, der kontinuierlich zunimmt. Für Privatanleger ist das Fluch und Segen: Auf der einen Seite profitieren sie von automatisch generierten Wertpapieraufträgen, weil diese die Liquidität im Markt erhöhen. Auf der anderen Seite müssen sie oft Abstriche beim Ausführungspreis machen: Ohne Computerunterstützung und schnelle Leitungen kommen sie nicht als Erste zum Zug, wenn sie Wertpapiere handeln. Das mag sich ein bisschen so anfühlen wie für einen Sportler, der trotz hartem Training den ersten Platz an einen gedopten Konkurrenten verliert. Einen fairen Handel mit gleichen Bedingungen für alle Teilnehmer schaffen – diese Idee verfolgt die noch junge US-Börse IEX. Anstatt im Wettlauf um Sekundenbruchteile mitzuhalten, macht sie dem Hochfrequenzhandel mit einer künstlichen Bremse ganz bewusst den Garaus: Ein sogenannter “speed bump” verzögert – analog zu den Temposchwellen auf Straßen – den Handel generell um 350 Mikrosekunden. Chancengleichheit hat auch die Börse Stuttgart fest in ihrem Marktmodell verankert – und zwar aus gutem Grund: Sie will Privatanleger auf Augenhöhe mit professionellen Investoren bringen, selbst wenn deren technische Möglichkeiten besser sind. Eine künstliche Bremse ist dafür nicht nötig: Der Handel wird entschleunigt, indem Kundenorders gebündelt und dann in kurzer Abfolge über eine Auktion ausgeführt werden. Zeitvorteile durch algorithmischen Handel gibt es an der Börse Stuttgart nicht: Alle Anleger haben hier das Recht auf Gleichbehandlung bei der Preisermittlung.Das Ziel der fortlaufenden Auktion lässt sich in fünf Worten zusammenfassen: Sie ermittelt den fairsten Preis. Hierfür stellt das Auktionsprinzip sicher, dass alle in einer bestimmten Zeitspanne eingehenden Orders mit gleichem Limit gleich behandelt werden – unabhängig davon, wer seinen Auftrag zuerst aufgibt. Ob also eine Order eine Mikrosekunde früher oder später eintrifft, hat keine Bedeutung. Vielmehr kommt es auf das Limit an. Sind alle Aufträge gesammelt, wird der Preis ermittelt, der die Aufträge nach klar definierten Regeln ins Gleichgewicht bringt. Das Ergebnis ist der fairste Preis für alle. Dazu ein sehr vereinfachtes Beispiel. Der Kurs der XY-Aktie steht aktuell bei 100 Euro. Als bekannt wird, dass das XY Unternehmen in einen Skandal verwickelt ist, gibt der Kurs um 2 % nach. Zu diesem Zeitpunkt stehen im Orderbuch fünf Aufträge auf der Kaufseite: Je 100 Stücke tragen jeweils das Limit 100, 99,50, 99 und 98,50 Euro; 500 Stück sollen zu 98 Euro gekauft werden. Auf der Verkaufsseite gibt es eine Bestens-Order zu 900 Stück. Im fortlaufenden Handel werden die Orders nun zunächst vollautomatisch nach Preis-Zeit-Priorität abgearbeitet: Die Käufer erhalten 100 Stück zu 100 Euro, 100 Stück zu 99,50 Euro, 100 Stück zu 99 Euro, 100 Stück zu 98,50 Euro und 500 Stück zu 98 Euro. Die limitierten Kauforders werden also nacheinander gegen die unlimitierte Verkaufsorder ausgeführt. Die Käufer, die nicht rechtzeitig ihre Orders infolge der kursbeeinflussenden Information löschen, zahlen den Preis, zu dem sie zwar limitiert haben, der aber höher ist als der Preis, auf dem sich die Aktie infolge der Nachricht einpendelt. Als eine bestimmte Preishürde unterschritten wird – in diesem Beispiel bei 98 Euro -, setzt eine Volatilitätsunterbrechung ein, die Handelsform wechselt. An der Börse Stuttgart hingegen werden nach dem Meistausführungsprinzip direkt in der fortlaufenden Auktion Angebot und Nachfrage gleichberechtigt zusammengeführt und der Gleichgewichtspreis bei 98 Euro ermittelt. Auf diese Weise kommen die Vorteile des Auktionsprinzips in puncto Gleichbehandlung und Fairness voll zum Tragen, während im fortlaufenden Handel die Käufer benachteiligt wurden, da sie zu einem überhöhten Preis ausgeführt wurden. Dabei geht das Auktionsprinzip nur geringfügig zulasten der Geschwindigkeit. Die meisten fortlaufenden Auktionen an der Börse Stuttgart sind sekundenschnell zu Ende. Dank einer leistungsfähigen IT ist selbst eine Orderausführung in 200 Millisekunden möglich. Bei illiquideren Papieren kann es aber auch mal fünf Minuten dauern, bis sich ein fairer Preis gefunden hat. Das zeigt: Geschwindigkeit ist relativ. Je schneller, desto besser, gilt im Wertpapierhandel nicht immer. Ist die ultraschnelle Ausführung bei derivativen Hebelprodukten hochrelevant, kommt es beispielsweise im Anleihehandel darauf nicht zwingend an. Mitunter kann Geschwindigkeit für den Markt sogar schädlich sein: Bei besonderen Nachrichten, wie im Beispiel gezeigt, kann der schnellstmöglich ermittelte Preis für Privatanleger nachteilig sein – weil er meist nicht der beste ist. Diesen sichern sich oft professionelle Investoren, die dank ihres Zugangs zu verschiedenen Quellen schneller auf Nachrichten reagieren können. Insbesondere bei unvorhergesehenen Nachrichten, illiquiden beziehungsweise spezielleren Wertpapieren und bei großen Orders macht es deshalb Sinn, vor der Preisermittlung erst einmal Angebot und Nachfrage und damit Liquidität zu bündeln. Abwarten und Preisinformationen veröffentlichen, damit die Marktteilnehmer die Lage bewerten und reagieren können – das ist die Prämisse. Die fortlaufende Auktion ist untrennbar mit dem hybriden Marktmodell der Börse Stuttgart verbunden. Diese Symbiose kombiniert Chancengleichheit mit hoher Preis- und Handelsqualität. Dazu sind – im Gegensatz zu vollautomatischen Computerplattformen – Experten in den elektronischen Handel eingebunden. Der Vorteil: Als sogenannte Quality Liquidity Provider oder kurz QLPs übernehmen sie Aufgaben, die kein Computer bewältigen kann. Dafür halten ihnen handelsunterstützende Systeme, die zum Beispiel Kursdaten aufbereiten, Orderlimits überwachen und viele Aufträge auch direkt automatisch ausführen, den Rücken frei.Eine der wichtigsten Aufgaben des QLP ist, dem Markt aktuelle Preisinformationen zur Verfügung zu stellen. Sie berücksichtigen dabei Preisinformationen und -indikationen von Market-Makern, liquiditätsspendenden Banken und weiteren Börsen- und Handelsplattformen sowie die Kundenaufträge im Orderbuch. Liegt eine ausführbare Orderbuchsituation vor, initiieren die QLPs die Preisermittlung. Bei Bedarf spenden sie zusätzliche Liquidität und springen ein, wenn bei einer Wertpapierorder einmal keine entsprechende Gegenpartei vorhanden ist. So wird der Auftrag des Anlegers rasch und zu einem fairen Preis ausgeführt – auch in illiquiden Papieren und schwierigen Marktsituationen. Das sorgt für Ausführungssicherheit. Ein weiterer Vorteil der Liquiditätsspende: Nicht wirtschaftliche Teilausführungen lassen sich reduzieren, so dass nur einmal Transaktionsgebühren fällig werden. Und dank des an der Börse Stuttgart geltenden Best-Price- und Best-Size-Prinzips werden alle Orders mindestens zum besten Preis ausgeführt, der zu diesem Zeitpunkt verfügbar ist.Der Faktor Mensch spielt im Auktionsmodell auch eine Rolle, wenn außergewöhnliche Orders eingehen – beispielsweise, wenn die sechsstellige WKN irrtümlich in das Feld für die Stückzahl eingetragen ist. Würde die Order dann sofort vollautomatisch ausgeführt, hätte ein Anleger plötzlich Hunderttausende Papiere in seinem Depot – und sein Konto würde direkt belastet. Unterstützt von moderner IT prüfen deshalb die Handelsexperten der Börse Stuttgart vor der Preisermittlung Orders sorgfältig auf Plausibilität und schützen Käufer und Verkäufer auf diese Weise. Für Anleger entsteht so das flexibelste und fairste Handelsmodell: mit dem Auktionsprinzip als Basis, erweitert um handelsunterstützende Systeme und veredelt mit menschlicher Expertise.