Die Neuvermessung der Energiewende durch Schwarz-Rot
Die Neuvermessung der Energiewende durch Schwarz-Rot
Die neue Bundesregierung will die künftige Energieversorgung wieder kosteneffizienter ausrichten. Dies könnte zu einer Kappung der Erneuerbaren-Ziele und zu mehr Erdgas führen.
Von Andreas Heitker, Berlin
Nächste Woche wird es ernst: Bis Monatsende soll die Energie-Consultingfirma BET zusammen mit dem Energiewirtschaftlichen Institut (EWI) der Universität zu Köln nämlich einen ersten Bericht vorlegen, wie es um die Energiewende in Deutschland aktuell bestellt ist. Es geht dabei um den Stand des Netzausbaus, des Ausbaus der erneuerbaren Energien, der Digitalisierung und des Wasserstoffhochlaufs. Es geht um die Versorgungssicherheit im Land und den zu erwartenden Strombedarf. Und klar ist schon jetzt: Dieser Bericht, der vom Wirtschaftsministerium in Auftrag gegeben wurde, dürfte die deutsche Energiepolitik der nächsten Jahre deutlich mitbestimmen.
Ein schnelles Monitoring der Energiewende hatten Union und SPD bereits in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart. Und die neue Bundesministerin für Wirtschaft und Energie, Katherina Reiche, nahm diese Vorlage dann auch dankbar auf: Bereits bei der Übergabe des Ministeriums kündigte die gebürtige Brandenburgerin noch im Beisein ihres Vorgängers Robert Habeck einen „Realitätscheck“ an, um die Kosten des Energiesystems wieder in den Griff zu bekommen.

Bildquelle: picture alliance/Jörg Carstensen
In den darauffolgenden Wochen hat Reiche dann bereits wiederholt sehr deutlich gemacht, an welchen Punkten sie ansetzen will, um eine stärkere Kosteneffizienz zu erreichen. So sagte sie beim BDI-Wirtschaftstag im Juni, dass die Netzentgelte auch so hoch seien, weil die aktuellen Ziele für den Ausbau der Erneuerbaren „völlig unrealistisch“ und „völlig überzogen“ seien. Der Zubau von Wind und Solar müsse sich am Netz orientieren und nicht umgekehrt.
Stromverbrauch im Fokus
Als wesentliche Kenngröße hat die CDU-Politikerin dabei den prognostizierten Stromverbrauch ausgemacht. Denn – so die Erkenntnis – wenn die Prognosen heruntergeschraubt werden, kann man langfristig auch die Investitionen in die Stromnetze senken und braucht weniger Erzeugungskapazitäten. In dem Monitoring-Auftrag an BET/EWI wird ausdrücklich auf Studien verwiesen, die zum Teil aus der (Energie-)Wirtschaft kommen und diese These unterstützen.
Eine vom Versorger EnBW in Auftrag gegebene Studie von Aurora Energy Research kam etwa Anfang April zu dem Ergebnis, dass es beim klimaneutralen Umbau des Energiesystems bis 2045 Einsparpotenziale von bis zu 700 Mrd. Euro gebe. Allein das Senken des Offshore-Wind-Ausbauziels von 70 auf 55 Gigawatt (GW) soll demnach 80 Mrd. Euro bringen, die gleiche Summe noch einmal ein geringeres Ziel für Batteriespeicher. Weniger heimische Erzeugung von Wasserstoff und damit verbunden die Senkung der Photovoltaik-Ausbauziele um 37% auf nur noch 254 GW sollen die Kosten sogar um 100 Mrd. Euro drücken. Mehr wasserstofffähige Gaskraftwerke und ein stärkerer Einsatz von „blauem“ – also durch Erdgas gewonnenen – Wasserstoff machen demnach einen 40 Mrd.-Effekt aus.
Den größten Kostenhebel mit 400 Mrd. Euro sehen die Aurora-Analysten aber in einer Anpassung der Stromprognosen. Die Erwartungen an die zukünftige Endkundennachfrage sei seit der Erstellung des Netzentwicklungsplanes 2023 (NEP2023) deutlich gesunken. „Eine Reduktion von 20 bis 25% entspricht der aktuellen Studienlage“, wird klargestellt.
Wasserstoff überbewertet?
In die gleiche Richtung zielt auch eine vom Berliner Übertragungsnetzbetreiber 50Hertz in Auftrag gegebene Studie, die von E-Venture Ende 2024 vorgelegt wurde. Auch hier wird ein geringerer Stromverbrauch angesetzt, der insbesondere aus einer niedrigeren Nachfrage aus der Industrie und einer reduzierten Elektrolysekapazität resultiert. Die Kosten für einen Stromnetzausbau an Land werden in dieser Studie bis 2045 um 20 bis 23% niedriger angesetzt als im NEP23.
Aktuell sehen die politischen Planungen einen Anstieg des Nettostrombedarfs in Deutschland von 464 Terawattstunden (TWh) im vergangenen Jahr auf 713 TWh im Jahr 2030 und 1.100 TWh im 2045 vor – also 2,3 mal so viel wie heute. Wesentliche Treiber in den Szenarien sind der Ausbau der Wasserstoffwirtschaft, Rechenzentren, die E-Mobilität, der Umstieg auf Wärmepumpen und natürlich die Dekarbonisierung der Industrie.
Weniger Erneuerbare, mehr Erdgas
Etwas genauer mit absehbaren Fehlsteuerungen im System befassen sich auch der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und die Boston Consulting Group (BCG), die im März auf über 70 Seiten „Impulse für eine wettbewerbsfähigere Energiepolitik“ vorgelegt hatten. Auch sie halten die heimische Wasserstoffproduktion für stark überschätzt. Im Gebäudebereich seien zudem bis 2035 die Annahmen zu Wärmepumpen und zum Ausbau der E-Mobilität wohl zu hoch. BDI und BCG setzen die Stromnachfrage in den nächsten zehn Jahren daher 15% geringer an als in den aktuellen Planungen.

Und das würde bedeuten: Bis 2035 könnten 330 Mrd. Euro an Systemkosten in der deutschen Energieversorgung eingespart werden, 215 Mrd. davon allein durch einen bedarfsgerechteren Ausbau der Stromnetze und der erneuerbaren Energien. Der Rest wäre über einen Mix aus stärkerer Flexibilität und Effizienz einschließlich einer stärkeren Nutzung von Gaskraftwerken erreichbar. 370 Mrd. Euro an Investitionen könnten laut der Studie in den nächsten zehn Jahren gespart werden – was sich auch auf die Strompreise positiv auswirken könnte. Für die Industrie könnten sich so allein im Jahr 2035 Preissenkungen von 11 Mrd. Euro realisieren.
Wirtschaftsministerin Reiche war vor ihrer Rückkehr in die Bundespolitik selbst Energiemanagerin gewesen: Sie war Chefin der Eon-Tochter Westenergie gewesen und hatte den Nationalen Wasserstoffrat geleitet. In ihrem neuen Amt scheint sie nun den Vorschlägen aus den genannten Studien folgen zu wollen, um die Energiewende kostengünstiger zu gestalten. Sie schlug zugleich vor, die Betreiber von Wind- und Solaranlagen sollten sich auch am Netzausbau beteiligen. „Das wird den Business Case noch einmal nach unten bringen“, machte sie beim BDI-Wirtschaftstag klar.
Grummeln auch in der Koalition
Auch die bisher bekannt gewordenen Pläne für Backup-Gaskraftwerke fügen sich in dieses Bild ein. Die schwarz-rote Koalition will ja neue Erzeugungskapazitäten im Volumen von 20 GW ausschreiben. Die Ampel-Regierung hatte nur 12,5 GW angepeilt. Und ob der bisher geplante verpflichtende Umstieg auf Wasserstoff so aufrechterhalten wird, ist ebenfalls noch unklar. In Berlin sorgt die absehbare Kappung der Erneuerbaren-Ziele bereits jetzt für Unruhe.
Die Deutsche Umwelthilfe kritisierte, dass in den Monitoring-Vorgaben beim Strombedarf ausschließlich bestehende Entwicklungen analysiert werden sollten. Wie Technologien wie E-Mobilität, Rechenzentren, Speicher und Wärmepumpen sowie die Modernisierung des Wirtschaftsstandorts weiter ausgebaut werden könnten, spiele hingegen keine Rolle. Bundesgeschäftsführer Sascha Müller-Kraenner warf Reiche vor, sie habe „ideologische Scheuklappen“ auf.
Scharfe Angriffe von den Grünen
Scharfe Angriffe kommen auch von den Grünen. Deren Vorsitzende Franziska Brantner kritisierte, auf dem Weg, Wasserstoff besser zu produzieren oder das Energienetz zu digitalisieren, würden innovative Akteure ausgebremst. Und der stellvertretende Parteichef Sven Giegold, der ebenso wie Brantner Staatssekretär von Habeck war, sieht eine Kampfansage an die Erneuerbaren und durch Schwarz-Rot eine große gesellschaftliche Auseinandersetzung aufziehen – „zwischen dem fossilen Kartell und der Bundesregierung auf der einen Seite und innovativen Unternehmen, Zivilgesellschaft und uns Grünen auf der anderen Seite“.
Auch innerhalb der schwarz-roten Koalition sind nicht alle glücklich mit dem kompromisslosen Kurs von Reiche in ihren ersten 80 Amtstagen und warnen vor neuen Planungsunsicherheiten auf Investorenseite. In einem Brief an die Ministerin stellte die energiepolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, Nina Scheer, in dieser Woche klar, dass der Monitoringauftrag an BET/EWI nicht in in allen Punkten mit dem Koalitionsvertrag vereinbar sei. Man wolle eine rasche Überprüfung – aber der Einigung von Union und SPD sei „kein gemeinsames Ansinnen einer Neuausrichtung der Energiepolitik zu entnehmen“.