„Trotz wachsender Datenmengen gibt es weiter Lücken“
„Trotz wachsender Datenmengen gibt es weiter Lücken“
Im Gespräch: Till Jung
„Trotz wachsender Datenmengen gibt es weiter Lücken“
ESG-Chef des Datenanbieters ISS Stoxx: Neue EU-Regeln werden Ratings verbessern – Keine Vereinheitlichung gewünscht
Neue EU-Regeln verbessern 2026 ESG-Ratings durch Transparenz, Qualität und Vergleichbarkeit, ohne Ergebnisse zu vereinheitlichen, berichtet Till Jung von ISS ESG.
Von Wolf Brandes, Frankfurt
Ab Mitte 2026 gelten in der Europäischen Union neue Regeln für Anbieter von ESG-Ratings. Wer Unternehmen in Sachen Umwelt, Soziales und guter Unternehmensführung bewertet, muss künftig eine Zulassung der europäischen Wertpapieraufsicht ESMA vorweisen – so sieht es die neue ESG-Ratingverordnung vor, die Ende 2024 verabschiedet wurde. Ziel ist es, die Qualität und Transparenz der Bewertungen zu verbessern, Interessenkonflikte zu vermeiden und eine gewisse Vergleichbarkeit zu schaffen. Doch weitgehend einheitliche Ergebnisse wie beispielsweise bei Kreditratings wird es auch künftig nicht geben.
„Die Regulierung sorgt für Offenheit, aber nicht für gleiche Ergebnisse – und das ist gut so“, sagt Till Jung, Managing Director bei ISS Stoxx. Das Unternehmen ist eine Tochter der Deutschen Börse und zählt zu den führenden Anbietern von ESG-Ratings. Die Ratingeinheit ISS Sustainability Solutions verkauft Daten und Bewertungen beispielsweise an Investoren, die ihre Portfolios nachhaltig ausrichten wollen – oder schlicht verstehen wollen, welchen Risiken Unternehmen ausgesetzt sind. Zu den großen Datenanbietern zählen neben ISS unter anderem MSCI, Morningstar Sustainalytics und S&P Global.
Vielfalt der Ansätze
Die neue EU-Verordnung verpflichtet die Ratinganbieter zu mehr Offenheit bei der Methodik. „Durch die neue ESG-Rating-Regulierung wird vor allem mehr Transparenz geschaffen, weil die Dokumentation der Methodik viel stärker vorgeschrieben ist“, sagt Jung. Gleichzeitig verteidigt er die Vielfalt der Ansätze: „Zum Glück wurde eine Vereinheitlichung der Methodik nicht regulatorisch durchgesetzt. Investoren wollen nicht in erster Linie gleiche Ergebnisse, sondern verstehen, warum ein Rating gegebenenfalls anders ausfällt als bei einem anderen Anbieter.“
Dass ESG-Ratings oft stark voneinander abweichen, hat für ihn mit unterschiedlichen Perspektiven auf Nachhaltigkeit zu tun. Und: „Wäre die Nachfrage nach vereinheitlichten Ratings groß, würde der Markt reagieren – das ist aber nicht der Fall.“ Anleger wählen laut Jung den Anbieter, dessen Methodik zu ihrem ESG-Investmentansatz passt. Dabei spiele vor allem der Zeithorizont eine Rolle. „Für uns ist Impact keine Ideologie, sondern eine Frage des Zeithorizonts: Was heute nicht bepreist ist, kann morgen relevant werden.“ Andere ESG-Spezialisten setzen andere Schwerpunkte.
Physische ESG-Risiken im Fokus
Lange drehte sich ESG vor allem um Emissionen. Heute hat sich der Blick erweitert. Investoren stellen andere Fragen, so Jung: „Früher ging es um Dekarbonisierung des Portfolios, heute fragt man: Wie kann ich als Investor die Dekarbonisierung der Realwirtschaft vorantreiben?“ Gleichzeitig gewännen physische Risiken stark an Bedeutung – gerade weil sie kurzfristige Folgen für Portfolios haben können. Extremwetter, Dürren oder Überschwemmungen können Unternehmen punktuell stark treffen.
„Unsere Daten zeigen nicht nur, wo ein erhöhtes Standortrisiko besteht, sondern auch, wie gut ein Unternehmen darauf vorbereitet ist.“ Denn nicht jeder Standort in einem Hochrisikogebiet sei automatisch gefährdet. Wenn Unternehmen Vorsorge treffen, können sie die Gefahr mindern. „Schutzmaßnahmen können dazu führen, dass Standorte weniger gefährdet sind – das muss in der Risikobewertung berücksichtigt werden.“
Besonders in rohstoffnahen Branchen wie Energie oder Bergbau komme es auf die exakte Lage der Produktionsstätte an. „Wir legen Satellitenbilder über Standortdaten – so zeigt sich manchmal, dass eine Fabrik woanders steht als aufgrund der Adresse gedacht.“
Viele Daten, viele Lücken
Der Input für ESG-Ratings ist in den vergangenen Jahren gewachsen, aber noch längst nicht lückenlos. „Trotz wachsender Datenmengen gibt es weiter Lücken – vor allem bei kleineren Unternehmen.“ Jung glaubt jedoch, dass auch Firmen unterhalb der gesetzlichen Schwelle künftig freiwillig tätig werden. „Wir erwarten, dass auch kleinere Unternehmen berichten, selbst wenn sie von der Pflicht ausgenommen sind – der Markt verlangt es. Wer Kapital will, wird berichten müssen.“
Dort, wo keine berichteten Daten vorliegen, setzt die Branche auf geschätzte Daten – insbesondere bei Klimarisiken. „Wir kombinieren Klimamodelle mit Geodaten, Vegetation, Windrichtung – das macht die Modelle robuster“, sagt Jung. Gerade bei indirekten Emissionen sei das unverzichtbar: Bei Scope-3-Emissionen – also entlang der Lieferkette – liegt der Anteil berichteter Daten im Schnitt nur bei rund 13%.
Zwei Kontinente, zwei Logiken
Dass sich die Anforderungen in Europa und den USA unterscheiden, prägt auch die ESG-Bewertung. „In Europa ist doppelte Materialität das Fundament – wir berücksichtigen finanzielle und gesellschaftliche Auswirkungen.“ In den USA hingegen dominiere der Fokus auf kurzfristige Risiken. Trotzdem denkt auch dort ein Teil der Investoren weiter – etwa Versicherungen oder Pensionsfonds.
Für viele Fonds sei es entscheidend, ob heute noch unbeachtete Faktoren morgen zu Risiken werden. ISS ESG versucht deshalb, diesen Entwicklungspfad abzubilden. „Unser Rating berücksichtigt daher auch Indikatoren, die heute noch nicht bepreist sind, aber künftig risikorelevant werden.“
