GELD ODER BRIEF

Atlantia ist ein Spielball der Politik

Von Gerhard Bläske, Mailand Börsen-Zeitung, 3.7.2020 Nicht einmal zwei Jahre sind seit dem Einsturz der Autobahnbrücke von Genua, bei dem 43 Menschen starben, vergangen. Die neue, von dem berühmten Architekten Renzo Piano entworfene Brücke ist dank...

Atlantia ist ein Spielball der Politik

Von Gerhard Bläske, MailandNicht einmal zwei Jahre sind seit dem Einsturz der Autobahnbrücke von Genua, bei dem 43 Menschen starben, vergangen. Die neue, von dem berühmten Architekten Renzo Piano entworfene Brücke ist dank einer beispiellosen Kraftanstrengung und deutlich verkürzter Bauverfahren schon fertig. Ende Juli soll sie dem Verkehr übergeben werden. Doch ob dann tatsächlich Autos darüberfahren können, ist unklar. Denn die Regierung in Rom hat noch immer nicht entschieden, wer das dazugehörende Autobahnnetz betreiben soll und für die technische Abnahme des Bauwerks verantwortlich ist. Über dem derzeitigen Autobahnbetreiber Autostrade per l’Italia (Aspi), einer Tochter des börsennotierten Infrastrukturkonzerns Atlantia, schwebt das Damoklesschwert eines Entzugs der Konzession. Premierminister Giuseppe Conte schiebt eine Entscheidung immer wieder hinaus, weil die eine Regierungspartei, der sozialdemokratische PD, die Konzession bei Atlantia belassen will, Koalitionspartner 5 Sterne aber auf den Entzug der Konzession dringt. Verheerende FolgenDie Folgen für Genua und Atlantia sind schon jetzt verheerend. Das Autobahnnetz um die Hafenstadt ist wegen der vielen Baustellen infolge von Wartungsmängeln und versäumter Arbeiten fast lahmgelegt. Aspi hat Arbeiten verschoben, um Liquiditätsprobleme zu vermeiden. Würde die Konzession tatsächlich entzogen, müsste sich die staatliche Straßenbaugesellschaft Anas, bei der Versäumnisse und Korruption notorisch sind, um Wartung und Investitionen in das Autobahnnetz kümmern.Wegen der Ungewissheit um die Zukunft von Atlantia bzw. Aspi haben die Ratingagenturen die Kreditwürdigkeit des Unternehmens auf Ramschanleihenniveau gesenkt. Atlantia betreibt ein Autobahnstreckennetz von 14 000 Kilometern in weltweit 23 Ländern und fünf Flughäfen, darunter Rom und Nizza. Außerdem gehört Telepass, Spezialist für Mautzahlungssysteme, der teilweise verkauft werden soll, zum Konzern. Atlantia wird zu 30 % von der Familie Benetton kontrolliert und ist einer der größten Investoren des Landes. 13 500 der weltweit 31 000 Mitarbeiter arbeiten in Italien. Knapp 15 Mrd. Euro sollten in den nächsten Jahren allein in Italiens Autobahnnetz investiert werden.Doch wegen der Unsicherheit um die Konzession und mangels Kreditwürdigkeit ist das kaum noch möglich. Selbst das Ansinnen, einen staatlich garantierten Coronavirus-Kredit über 1,25 Mrd. Euro zu erhalten, ist von der Regierung zurückgewiesen worden. Es kommt hinzu, dass die Coronavirus-Krise Atlantia schwer getroffen hat. Die Einnahmen aus den Autobahnmautgebühren und Flughäfen sind massiv eingebrochen: Atlantia rechnet für 2020 mit einem Umsatzrückgang von 3 Mrd. Euro und hat im ersten Quartal rote Zahlen geschrieben. 2019 kam Atlantia noch auf Erlöse von 11,6 Mrd. Euro und einen bereinigten Nettogewinn von 127 Mill. Euro. Die Auszahlung der Dividende für 2019 wurde gestoppt.Ein Entzug der Konzession wäre für Rom juristisch höchst riskant. Zwar gibt es Berichte von Gutachtern über erhebliche Wartungsmängel, die Fälschung von Prüfberichten und durchgerostete Trageseile, für die die Autobahntochter verantwortlich sei: Aber juristisch ist die Schuld an dem Unglück nicht festgestellt. Atlantia hat 2,9 Mrd. Euro für Entschädigungen, Wiedergutmachung, zusätzliche Investitionen und die Senkung von Autobahngebühren angeboten. Die Sozialdemokraten sind verhandlungsbereit, wenn Atlantia weitere Zugeständnisse macht. Doch angesichts des Widerstands der 5 Sterne mag sich Conte nicht entscheiden.Der Börsenkurs erlebt ständige Aufs und Abs und liegt mit 14,56 Euro um ein Drittel unter der Vorkrisennotierung vom Februar. Bestimmt wird er längst nicht mehr von wirtschaftlichen Erwägungen, sondern von politischen. Atlantia klagt gerichtlich dagegen, vom Bau der neuen Genueser Autobahnbrücke ausgeschlossen worden zu sein, und hat nach Ansicht etwa der Mediobanca gute Chancen, recht zu bekommen. Gleichzeitig hat das Unternehmen in einem Brief an den EU-Kommissionsvizepräsidenten Valdis Dombrovskis schwere Vorwürfe gegen die Regierung in Rom erhoben.Denn Italiens Regierung hat die Entschädigung im Fall eines Entzugs der bis 2038 laufenden Konzession für ein 3 500 Kilometer langes Autobahnnetz in Italien einseitig von 23 Mrd. auf 7 Mrd. Euro reduziert. Das ist weniger als die Aspi-Verschuldung von 10 Mrd. Euro und deutlich weniger als die konsolidierte Atlantia-Verschuldung von 37 Mrd. Euro. Außerdem übt Rom Druck auf den Konzern aus, die Mehrheit an der Autobahngesellschaft Aspi für einen Spottpreis an die mehrheitlich staatliche Förderbank Cassa Depositi e Prestiti (CDP) abzugeben. Das würde nach Ansicht des Konzerns “einen beträchtlichen Schaden für italienische und ausländische Investoren” verursachen. Atlantia hält 88 % an Aspi, der Rest ist in Händen des chinesischen Fonds Silk Road und der deutschen Allianz. Atlantia fordert Brüssel auf, Initiativen gegen Rom wegen der Verletzung des EU-Rechts zu ergreifen. Positiver AusgangAnalysten etwa von J.P. Morgan sehen den Aktienkurs vor allem politisch bestimmt. Die Mehrheit der Analysten glaubt an einen für Atlantia bzw. Aspi positiven Ausgang des Streits, also den Verzicht auf einen Konzessionsentzug. Von den 22 Analysten, die sich mit Atlantia beschäftigen, empfehlen immerhin neun einen Kauf, zwölf raten zum Halten und nur einer zum Verkauf. Das durchschnittliche Kursziel liegt bei 18,71 Euro.Auch Analyst Nicolo Pessina von der Mediobanca rechnet mit einem Kompromiss, den er als “beste Lösung” betrachtet. Er hält die Verschuldung für tragbar und die Liquidität von derzeit mehr als 4 Mrd. Euro für ausreichend – vorausgesetzt, die Konzession wird nicht entzogen. Mediobanca empfiehlt Halten, sieht ein Aufwärtspotenzial von bis zu 30 %.