Sorge um KI-Rally

Aufgeblähte Bewertungen machen S&P 500 anfällig

Oracle und OpenAI haben der Börsenrally um künstliche Intelligenz neues Feuer verliehen. Dennoch warnen Analysten davor, dass die Großinvestitionen in die Zukunftstechnologie schon bald abflauen dürften.

Aufgeblähte Bewertungen machen S&P 500 anfällig

Aufgeblähte Bewertungen machen S&P 500 anfällig

Zweifel an KI-Rally wachsen trotz Großaufträgen für Cloud-Infrastruktur von Oracle – Analysten warnen vor Ende des Investitionsbooms

Von Alex Wehnert, New York

Der Lokomotivführer des KI-Zuges legt Kohle nach: OpenAI füllt die Pipeline von Oracle mit einem Großauftrag auf. Damit macht das Startup noch einmal Dampf bei der Börsenrally um künstliche Intelligenz, die es mit der Veröffentlichung seines Textgenerators ChatGPT 2022 losgetreten hatte. Denn nachdem Oracle zur Wochenmitte auch dank der OpenAI-Order einen Sprung des Gegenwerts ihrer ausstehenden Leistungsverpflichtungen von 138 auf 455 Mrd. Dollar vermeldete, zog die Marktkapitalisierung des Datenbankriesen binnen eines Tages um 244 Mrd. Dollar an. Die Kursexplosion fiel in eine Phase, in der die Zweifel von Investoren am KI-Boom eigentlich zugenommen haben.

Tempoverlust voraus

Während der S&P 500 und der Nasdaq 100 in der laufenden Woche einmal mehr Schlussrekorde erzielt haben, schrillen an der Wall Street angesichts der massiven Abhängigkeit der Rally von einer kleinen Anzahl an Werten zunehmend die Alarmglocken. So betonen die Analysten von Goldman Sachs, dass die Kurse von KI- und Cloud-Infrastruktur-Aktien „weit über die kurzfristige Gewinnkurve hinausgeschossen“ seien. Ein „scharfer Tempoverlust“ beim Wachstum der Investitionsausgaben sei unausweichlich. Dies berge „substanzielle Abwärtsrisiken sowohl für den KI-Trade als auch für den breiten S&P 500“, warnt Goldman.

Börsen-Zeitung, sw/iGrafik.de

Zuletzt notierte die US-Benchmark zu mehr als dem 22-fachen der prognostizierten Gewinne pro Aktie für die kommenden zwölf Monate – die Bewertung deutlich oberhalb des zehnjährigen Durchschnitts sollte Anlegern zu denken geben, mahnen die Analysten von Wolfe Research. Chef-Investmentstratege Chris Senyek sieht den S&P 500 anfällig für Rückschläge. Gerade der politische Druck auf die Federal Reserve, die Zinsen zu senken, und die fiskalische Expansion infolge des von US-Präsident Donald Trump unterzeichneten Mega-Steuerpakets, der „Big Beautiful Bill“, sorgten für die Gefahr einer ökonomischen Überhitzung.

Positive Gewinnüberraschungen

Noch herrscht freie Fahrt: Inzwischen haben über 99% der Unternehmen im S&P 500 ihre Berichte zum zweiten Kalenderquartal vorgelegt – laut dem Datendienst Factset hat der Überschuss im Index zum Vorjahr um 12% zugelegt und damit zum dritten Mal in Folge ein zweistelliges prozentuales Plus erreicht. Dabei lieferten 81% der Mitglieder eine positive Überraschung. Die liquiden Mittel vieler Unternehmen fließen laut der Research-Firma Birinyi Associates angesichts der politischen Unsicherheit allerdings zunehmend in Aktienrückkäufe und weniger in Zukunftsinvestitionen.

Die Analysten von Morgan Stanley gehen zwar davon aus, dass die Ausgaben für Chips, Server und Rechenzentren-Infrastruktur zwischen 2025 und 2028 auf 2,9 Bill. Dollar steigen und damit im laufenden und kommenden Jahr 0,5% zum Bruttoinlandsprodukt der USA beitragen werden. Der Löwenanteil entfällt allerdings auf Amazon, Alphabet, Meta Platforms und Microsoft, deren Kapitalaufwendungen sich allein 2025 auf 400 Mrd. Dollar summieren dürften. 

Massive Konzentration auf wenige Kunden

Wall-Street-Häuser warnen deshalb davor, dass der KI-Boom von einer zu kleinen Gruppe an zahlungskräftigen Kunden abhängig sei. Aus Offenlegungen von Nvidia bei der US-Börsenaufsicht SEC geht hervor, dass 39% der Erlöse des Chipdesigners im Juli-Quartal auf nur zwei Kunden entfielen. Auch Oracle, deren Aktienkurs in der laufenden Woche explodierte, nachdem sie einen Sprung des Gegenwerts ihrer Auftragspipeline von 138 auf 455 Mrd. Dollar binnen drei Monaten vermeldete, verwies darauf, „vier Multi-Milliarden-Dollar-Verträge mit drei verschiedenen Kunden“ unterzeichnet zu haben.

Nach US-Börsenschluss am Mittwoch wurden mehr Details zu einer Vereinbarung öffentlich, die in ihren Grundzügen bereits im Juni durchgesickert war. So will OpenAI 4,5 Gigawatt an Computing-Leistung von Oracle beziehen, der Deal soll über fünf Jahre 300 Mrd. Dollar wert sein. Allerdings werfen Skeptiker bereits die Frage auf, ob der Software-Riese überhaupt schnell genug die nötigen Kapazitäten aufbauen kann, klagt doch die gesamte Cloud-Infrastruktur-Branche über einen Mangel an Halbleitern. Zudem, betonen Analysten, macht sich Oracle mit dem Liefervertrag von einem unprofitablen Startup abhängig, dessen annualisierter Erlös laut einer Veröffentlichung aus dem Juli zuletzt bei 12 Mrd. Dollar lag – das durchschnittlich aber 60 Mrd. Dollar pro Jahr für die vereinbarte Computing-Kapazität aufbringen soll.

Die Beziehungen von OpenAI zu ihren führenden Geldgebern um Microsoft sind derweil zunehmend angespannt, weil die angestrebte Umwandlung des jungen KI-Vorreiters von einer Non-Profit-Gesellschaft in ein gewinnorientiertes Unternehmen auch infolge harten Gegenwinds von Stiftungen und Arbeitnehmerverbänden in Kalifornien äußerst schleppend voranschreitet. Investoren wie die japanische Technologieholding Softbank hatten die Höhe ihrer zugesagten Mittel bei vergangenen Milliarden-Finanzierungsrunden von OpenAI davon abhängig gemacht, dass das Startup seine Reorganisation bis Ende des laufenden Jahres erfolgreich abschließt.

Nvidia enttäuscht

Derweil steht nicht nur OpenAI als Lokomotivführer des KI-Börsenzugs unter zunehmendem Druck, sondern mit Nvidia auch der Schaffner, der über die vergangenen zweieinhalb Jahren alle Investoren zum Einsteigen brachte. Der Chipdesigner hat zuletzt zwar sein Rekord-Erlöswachstum fortgeschrieben und mit seiner Gewinnentwicklung weiterhin die Erwartungen der Wall Street übertroffen. Doch in einem wichtigen Segment enttäuschte Nvidia im Sommerquartal die Anleger: Die Erlöse im Datenzentren-Geschäft zogen zwar ebenfalls um 56% auf 41,1 Mrd. Dollar an, Analysten hatten sich aber 41,3 Mrd. Dollar ausgerechnet.

Börsen-Zeitung, sw/iGrafik.de

Zudem ringt Nvidia mit hartem Gegenwind in China. Zwar schloss der Designer zuletzt einen Deal mit der Washington, um Beschränkungen von Chip-Ausfuhren ins Reich der Mitte umgehen zu können. Peking reagierte gereizt auf Äußerungen von US-Handelsminister Howard Lutnick, der betont hatte, China „nicht unser bestes, nicht unser zweitbestes und noch nicht einmal unser drittbestes Zeug“ zu verkaufen. Die Volksrepublik macht deshalb Druck auf heimische Tech-Riesen um Alibaba, Halbleiter statt von Nvidia von inländischen Produzenten zu beziehen.

Studie sorgt für Verunsicherung

Ungeachtet dieser Spannungen geben sich die Management-Teams der Unternehmen im S&P 500 alle Mühe, die Euphorie um lernfähige Algorithmen noch anzustacheln: Laut dem Datendienst Factset fiel der Begriff „KI“ zwischen dem 15. Juni und 5. September 2025 in 287 Telefonkonferenzen zur Vorlage von Quartalsergebnissen, das waren so viele wie noch nie.

Doch laut einer im August veröffentlichten Studie des renommierten Massachusetts Institute of Technology haben 95% der realwirtschaftlichen Pilotprojekte mit künstlicher Intelligenz bisher keinerlei messbaren Einfluss auf die Gewinn- und Verlustrechnung von Unternehmen.

Auch OpenAI-CEO Sam Altman sorgte zuletzt für Verunsicherung. KI bringe zwar „großen Mehrwert für die Gesellschaft“, sagte er Mitte August vor Reportern – allerdings seien Investoren „übermäßig begeistert“. Einige Anleger würden mit KI-Investments wohl „viel Geld verlieren“. Der KI-Lokomotive, warnt auch Goldman, droht also doch noch die Kohle auszugehen.

Oracle und OpenAI haben der Börsenrally um künstliche Intelligenz neues Feuer verliehen. Dennoch warnen Analysten davor, dass die Großinvestitionen in die Zukunftstechnologie schon bald abflauen dürften. Dann drohten der Wall Street angesichts historisch hoher Kurs-Gewinn-Verhältnisse herbe Rückschläge.