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Bärendienst der Börse für die Aktienkultur

Börsen-Zeitung, 11.7.2020 Welche Aktie im Dax wurde in der zurückliegenden Woche am meisten gehandelt? SAP, Daimler, Bayer oder Deutsche Bank? Keiner dieser Titel. Es war Wirecard. Am Dienstag und Mittwoch rangierte Wirecard mit Abstand auf Platz 1...

Bärendienst der Börse für die Aktienkultur

Welche Aktie im Dax wurde in der zurückliegenden Woche am meisten gehandelt? SAP, Daimler, Bayer oder Deutsche Bank? Keiner dieser Titel. Es war Wirecard. Am Dienstag und Mittwoch rangierte Wirecard mit Abstand auf Platz 1 der höchsten Tagesumsätze nach Stückzahl mit 24,9 beziehungsweise 15,4 Millionen gehandelten Aktien, an den übrigen Tagen in der Spitzengruppe. Damit wird das Geschehen im deutschen Vorzeigeindex Dax von der Zockerei in einem Titel geprägt, der Insolvenz angemeldet und den Anlegern vermutlich seit Jahren gefälschte Bilanzen vorgelegt hat. Und die Deutsche Börse als verantwortliche Institution für Aufnahme und Entfernung von Unternehmen aus dem Dax schaut diesem Treiben weiterhin zu und hat erst einmal eine “Marktkonsultation” angekündigt. “Es ist eine Schande”, um es mit den Worten von BaFin-Präsident Felix Hufeld zu formulieren, wie die Deutsche Börse sich bei diesem Thema bisher wegduckt. Oder ist das der Beitrag des Marktbetreibers zur Weiterentwicklung der Aktienkultur in diesem Land? Index mit HistorieJa, liebe Leser, an dieser Stelle reagiere ich vielleicht etwas emotional, aber das möge man mir als Chefredakteur jener Zeitung nachsehen, aus deren Aktienindex einst der Dax hervorgegangen ist und die vor mehr als 32 Jahren diesen Index zur weiteren Entwicklung und Pflege in die Hände der Deutschen Börse gegeben hat. Seit 1988 ist am Regelwerk des Dax 30 wie auch der in den späteren Jahren um ihn herum entwickelten Indexfamilie immer wieder gefeilt worden, um Transparenz und Qualität zu erhöhen und Zufallseinflüsse zu minimieren. Der Dax-Arbeitskreis aus einem Dutzend Fachleuten des Finanzmarktes, der Banken und der Assetmanagement-Branche, der in den Anfangsjahren auch qualitative Aspekte potenzieller Dax-Aufsteiger und -Absteiger nicht nur diskutierte, sondern in den Entscheidungen auch berücksichtigte, ist mit zunehmender “Objektivierung” und Mathematisierung der Aufnahmekriterien zum Kaffeekränzchen verkommen. Fehlentscheidungen Verquere InsolvenzregelEine Fehlentscheidung der Börse war und ist es auch, Wirecard nicht längst aus dem Dax 30 entfernt zu haben. Spätestens mit dem Insolvenzantrag am 25. Juni hätte dieser Schritt erfolgen müssen. Schließlich sieht selbst der Leitfaden unter dem Kapitel “Nicht kalkulierbare Ereignisse, extreme Wirtschaftssituationen und Marktverwerfungen” vor, in solchen Fällen vom Regelwerk abweichen zu können und kurzfristig die Indexzusammensetzung zu ändern. Sinnvollerweise schreibt das Regelwerk eine außerordentliche Aktualisierung der Indexzusammensetzung im Insolvenzfall zwingend dann vor, wenn der Insolvenzantrag mangels Masse abgewiesen wird. Weshalb aber bei Beantragung und Eröffnung eines Insolvenzverfahrens ein Dax-30-Wert “erst im Rahmen der nächsten vierteljährlichen Überprüfung der Zusammensetzung” aus dem Index genommen werden soll, ist schwer nachzuvollziehen. Erst recht, wenn man die Umstände der Wirecard-Insolvenz berücksichtigt.Immerhin ist die Börse vier Tage (!) nach dem Insolvenzantrag aus ihrem Tiefschlaf erwacht und hat festgestellt: “Das Vertrauen in den Kapitalmarkt hat offensichtlich in den letzten Tagen gelitten”. Ja, so kann man das sehen. Der Wirecard-Kurs, schon vor dem Insolvenzantrag auf 12,30 Euro abgestürzt, war in diesen vier Tagen in einer Achterbahnfahrt in die Tiefe gesaust und wieder hochgerauscht und am 29. Juni mit 3,26 Euro aus dem Xetra-Handel gegangen. Übrigens mit an diesem Tag 71,4 Millionen gehandelten Aktien, weit vor der Deutschen Bank mit 14,1 Millionen Stück. Und alle Investoren mit Produkten auf den Dax waren gezwungenermaßen ein wenig mit an Bord, insbesondere die vielen Dax-ETFs haltenden Kleinanleger. Das sind sie bis zum heutigen Tag, denn bei der Börse ist auf die Erleuchtung über den Vertrauensverlust in den Kapitalmarkt nur die Ankündigung gefolgt, das Indexregelwerk nach dem üblichen Konsultationsprozess mit den Marktteilnehmern zu ändern. Mehr Wischiwaschi geht nicht. Da fragt man sich, wo in dieser für die Reputation der Deutschen Börse, ihrer Indizes und des deutschen Finanzplatzes höchst heiklen Phase der sonst so wortgewandte und handlungsstarke Vorstandsvorsitzende war und ist. Wirecard-ZwangsinvestmentAnleger, die in die “Best of” der deutschen Wirtschaft investieren wollen und sich deshalb für Dax-30-Produkte entscheiden, engagieren sich also auch heute noch indirekt in Wirecard. Und Anbieter von Dax-Produkten sind immer noch gezwungen, direkt oder synthetisch in eine Pleitefirma mit angeschlossener Fälscherwerkstatt zu investieren. Es wäre ein Armutszeugnis für den Finanzplatz und ein Bärendienst für die Aktienmarktkultur, wenn dies unter dem Vorwand irgendwelcher “Regeln” noch zwei Monate bis zum regulären Anpassungs- und Verkettungstermin im Dax so weiterginge. – c.doering@boersen-zeitung.de—-Von Claus DöringSpätestens mit dem Insolvenzantrag hätte die Deutsche Börse Wirecard aus dem Dax entfernen müssen. Das Regelwerk hätte das ermöglicht. ——