Belastungsprobe für Lateinamerika
Von Mauro Toldo*)
Das Jahr 2022 stellt eine zunehmende Herausforderung für lateinamerikanische Länder dar. Nachdem im vergangenen Jahr viele Länder der Region einen mehrjährigen Wachstumsrekord verzeichneten und damit zumindest Teile der wirtschaftlichen Schrumpfung des Vorjahres ausgleichen konnten, steht 2022 im Zeichen der Wachstumseintrübung. Ein starker Gegenwind weht in Form straffer Geldpolitik, nicht nur durch die heimischen Zentralbanken, sondern vor allem durch die amerikanische Notenbank. Die Maßnahmen dürften insgesamt schwierigere globale Finanzierungsbedingungen mit sich bringen. Doch auch die Exportaussichten haben sich mit dem Angriffskrieg Russlands in der Ukraine und der Null-Covid-Strategie in China eingetrübt. All dies geschieht in einem Umfeld, in dem die Lateinamerikaner kaum über ausreichenden Spielraum für eine aktive fiskalpolitische Stützung der Wirtschaft verfügen. Die noch zu Jahresbeginn gehegte Hoffnung auf ein gutes Jahr 2022 hat sich bereits nach wenigen Monaten zerschlagen.
Höhere Rohstoffpreise
In der zweiten Jahreshälfte 2021 hatten Fortschritte bei den Impfkampagnen Erwartungen einer anhaltenden Konjunkturerholung geschürt. Steigende Rohstoffpreise haben zudem vor allem in Südamerika für einen Geldsegen gesorgt. Die Freude über die steigenden Einnahmen aus den Rohstoffexporten wurde aber immer mehr von der Sorge um steigende Lebenshaltungskosten verdrängt. So klettern vor allem die Preise für Kraftstoffe und Nahrungsmittel. Zusätzlich haben Lieferengpässe und umfangreiche Fiskalprogramme für steigende Preise in der Breite der Verbrauchsgüter geführt.
Als die Inflationsraten im vergangenen Jahr anfingen zu klettern, schien diese Entwicklung angesichts der niedrigen Auslastungsgrade der Volkswirtschaften nicht vom Dauer zu sein. Dennoch reagierten viele Zentralbanken schon früh, um zu verhindern, dass die Stabilitätserfolge der Vergangenheit zunichtegemacht werden. So hat Brasilien bereits vor über einem Jahr den Leitzins zum ersten Mal angehoben, im Sommer gefolgt von Mexiko, Peru und Chile.
Nachfrage geschürt
Im Herbst wurde klar, dass die Belastungen größer waren als zunächst gedacht. In einzelnen Ländern wurde die Nachfrage der privaten Haushalte dennoch weiter geschürt, um die Wirtschaft weiter zu unterstützen. Zum Jahreswechsel hatten alle Zentralbanken in der Region entschlossen gegen die Inflation agiert. Doch die Geopolitik hat den Zentralbanken einen Strich durch die Rechnung gemacht. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat die Preise für Energieträger und Nahrungsmittel nach oben katapultiert. Die Inflationserwartungen in Lateinamerika stiegen weiter, und die bisherigen Anstrengungen wurden zunichtegemacht. Weitere Zinsanhebungen wurden nötig und trotz der Eintrübung der Wirtschaft auch durchgeführt.
Die wirtschaftliche Eintrübung wird die Bonitätsentwicklung in Lateinamerika belasten, denn neben der hohen Verschuldung bemängeln die Ratingagenturen vor allem den schwachen Wachstumsausblick. Als gäbe es nicht schon genug Sorgen, kam in den vergangenen Wochen noch erschwerend hinzu, dass der wichtigste Handelspartner von Lateinamerika – China – seine Null-Covid-Strategie mit den Lockdown-Maßnahmen unterstrich. Genau diese Politik trifft insbesondere die Länder Lateinamerikas in voller Härte. Abzulesen ist dies im deutlichen Währungsverfall beispielsweise des brasilianischen Real, aber auch am chilenischen Peso. Allein im April sind die Währungen gegenüber dem US-Dollar um fast 5% bzw. um fast 10% gefallen.
Doch die geldpolitische Straffung ist nicht auf Lateinamerika begrenzt – sie ist ein globales Phänomen. Die aktuelle Diskussion über ein sehr entschlossenes Handeln durch die Fed birgt zusätzliche Risiken für die Länderemittenten in Südamerika. Erstens dürfte diese Straffung zu einer weiteren Eintrübung des globalen wirtschaftlichen Ausblicks führen. Des Weiteren steigen durch die Zinsanhebung die globalen Finanzierungskosten. Dies kann vor allem für schwächere Emittenten, die über eine zu kleine lokale Investorenbasis verfügen, zu einem Problem werden, wie etwa mittelamerikanische Länder wie El Salvador oder Honduras. Höhere US-Zinsen verringern auch die relative Attraktivität für Investments in Emerging Markets und könnten zu Kapitalabflüssen aus diesem Segment führen. Der neu gewonnene Eifer der Federal Reserve bei der Inflationsbekämpfung deutet darauf hin, dass sie diesmal weniger auf die negativen Folgen ihrer Geldpolitik in den Emerging Markets schauen wird, zumindest bis das Gespenst der Inflation in den USA gebannt ist. Lateinamerika ist der Geldpolitik der Fed ausgeliefert. Seit Anfang des Jahres ist die durchschnittliche Rendite des von J.P. Morgan berechneten Index EMBIG für Länderemittenten in Lateinamerika von unter 5,5% auf fast 7,3% angestiegen.
Tiefe Spuren
Die Corona-Pandemie hatte tiefe Spuren in der Bonität der Region hinterlassen. Auf Afrika und Lateinamerika entfiel der größte Teil der weltweiten Herabstufungen in den Jahren 2020 und 2021. Lateinamerikanische Länder haben auf die Pandemie mit einer fiskalischen Lockerung reagiert. Daraus ist eine höhere öffentliche Verschuldung entstanden, mit negativen Auswirkungen auf die Bonität. Das vergangene Jahr hatte erste Anzeichen einer Stabilisierung der Schuldenstände gebracht, wodurch der Abwärtsdruck auf die Ratings gemildert wurde. Dennoch sind die Schuldenstände weiterhin zu hoch, als dass sie in einem Umfeld von steigenden Finanzierungskosten und schwachem Wachstum als nachhaltig betrachtet werden könnten. Die Ratingagenturen haben klargestellt, dass eine Stabilisierung der Bonität in der Region nur durch eine geringere Verschuldung oder durch deutlich höheres Wirtschaftswachstum zu verwirklichen ist. Auf den Ruf der von der Pandemie gebeutelten Bevölkerung nach mehr sozialen Ausgaben kann die Regierung nicht reagieren, ohne die gebrechliche fiskalische Position zu gefährden und weitere Downgrades zu riskieren. Allerdings ist es auch gefährlich, wenn dieser Ruf unerhört bleibt. Die vergangenen wichtigen Wahlen der Region haben populistischere Regierungen und fragmentierte Parlamente hervorgebracht, wie etwa in Chile, Peru oder Costa Rica. Für die anstehenden Wahlen in Kolumbien (Ende Mai) und Brasilien (Oktober) sind die Aussichten kaum besser. Der Reformausblick, der in dieser Region nie rosig war, hat sich in zuletzt noch weiter eingetrübt. Der Spread des von J.P. Morgan berechnete Index für Hartwährungsanleihen EMBIG Div. für diese Region hat sich seit Jahresanfang von 363 Basispunkten (BP) über Treasuries auf zuletzt 416 BP ausgeweitet. Angesichts der anhaltenden Belastung erscheint eine weitere Ausweitung auf Sicht der kommenden Monate nicht unwahrscheinlich.
*) Mauro Toldo ist im Makro-Research der DekaBank tätig.