Dezentrale Technologie

Chancen auf der Blockchain

Blockchain-Lösungen bieten auch über Kryptowährungen hinaus großes Potenzial. Der dezentrale Trend erfasst das Finanzwesen und die Logistik. Für Investoren bieten sich dabei wachsende Teilnahmechancen.

Chancen auf der Blockchain

Sie existieren rein virtuell, sind somit nicht greifbar, und doch sehen zahlreiche Analysten in ihnen das Fundament für die Wirtschaft der Zukunft: Blockchains ziehen an den Finanzmärkten derzeit zunehmend die Aufmerksamkeit auf sich.  Der breiten Masse der Investoren sind die dezentralen Technologien vor allem in Verbindung mit hochvolatilen Cyberdevisen wie Bitcoin und Ether ein Begriff. „Das Blockchain-Universum besteht aber nicht nur aus Kryptowährungen als Kapitalanlage oder Geldalternative“, sagt Adrian Marcu, Head of Investment Solutions and Digital Assets beim Schweizer Multi Family Office Belvoir Capital, das zwei Anlagezertifikate mit Fokus auf die Blockchain-Sphäre aufgelegt hat. „Die dahinterstehende Technologie bietet eine hohe Funktionalität und gewaltige Möglichkeiten zur Effizienzsteigerung für alle Marktteilnehmer, von privaten Anlegern über professionelle Investoren bis zu industriellen Anwendern.“

Tatsächlich stimmen laut dem „Global Blockchain Survey“ der Beratungsgesellschaft Deloitte 81 % der 1 280 befragten Manager aus verschiedenen Branchen der Aussage zu, Blockchain-Technologie sei umfassend skalierbar und habe bereits eine Adoption im Mainstream erreicht. Unter den 320 Umfrageteilnehmern aus der Finanzdienstleistungsbranche betrug der Anteil der Zustimmungen sogar 84 %. Bezüglich des Potenzials von Distributed-Ledger-Technologien  zieht Marcu Parallelen zu E-Mail-Protokollen. Letztere würden auch nicht gesondert als Asset bewertet, sondern hätten das gesamte globale Kommunikationsverhalten revolutioniert. Der Siegeszug der Blockchain gehe nicht über Nacht vonstatten, doch auch das Internet habe sich erst über Jahrzehnte graduell als dominante Technologie etabliert.

Dezentrales Wachstum

„Allerdings sind die Anwendungsmöglichkeiten für Blockchain-Technologien bereits wesentlich klarer, als es in Bezug auf das Internet in den Anfangstagen der Web-Dienstleistungen der Fall war“, sagt Steffen Bauke, CEO von Belvoir Capital. Durch die Metaverse-Pläne von Facebook habe das Thema noch einmal viel Aufmerksamkeit erfahren, besonders stark wachse zudem das dezentralisierte Finanzwesen (DeFi). Der Grundgedanke hinter dem DeFi-Trend besteht darin, klassische Finanzkonzepte mit Distributed-Ledger-Technologien zu verbinden und zentrale Intermediäre wie Börsenmakler und Banken abzulösen. Dabei helfen Smart Contracts, also Computerprotokolle, die Transaktionen auf einer Blockchain automatisiert und dezentral ausführen können. Das Volumen des Kryptokapitals, das in Smart Contracts mit DeFi-Bezug liegt, ist kräftig gewachsen: Summierte es sich laut der Plattform DefiLlama Anfang 2021 auf 18,1 Mrd. Dollar, so ist dieser Wert binnen eines Jahres auf knapp 210 Mrd. Dollar gestiegen.

„DeFi-Anwendungen haben den größten Einfluss auf die Bereiche der Finanzdienstleistungen, die erhebliche Reibungsverluste aufweisen, beispielsweise durch hohe Gebühren“, sagt Justin Sumner, der bei Newton Investment Management den BNY Mellon Blockchain Innovation Fund lenkt. Für zwei Bereiche gelte dies ganz besonders: Kredite und Überweisungen. „Die Kreditvergabe ist reif für einen Wandel, weil der Prozess aufgrund der vielen beteiligten Parteien ineffizient ist, was  langwieriges Underwriting, hohe Kosten und Unzufriedenheit bei den Kunden zur Folge hat“, führt Sumner aus. Ebenso seien herkömmliche Überweisungstransaktionen mit Gebühren von 5 % und mehr sehr teuer und benötigten aufgrund der veralteten Zahlungsinfrastruktur viel Zeit für die Abwicklung. Durch die Automatisierung bestehender Prozesse mit Hilfe der in die Blockchain-Technologie eingebetteten Smart-Contract-Funktionen könnten Kosten und Geschwindigkeit dieser Finanzprodukte und Dienstleistungen drastisch verbessert werden.

Für etablierte Großbanken bedeutet eine zunehmende Dezentralisierung des Finanzwesens indes einen Machtverlust. „Alle Marktteilnehmer können innerhalb der DeFi-Welt frei entscheiden, welche Position sie einnehmen wollen, ob als Geldverleiher, als Kreditnehmer, Trader, Bereitsteller von Liquidität oder einer Kombination aus diesen Rollen“, sagt Bauke. „All diese Funktionen werden heute noch zentralisiert durch Banken gesteuert, die nun zunehmend durch neue Geschäftsmodelle abgelöst werden.“ Für traditionelle Finanzinstitute gehe es daher nun darum, sich an die Entwicklung anzupassen. Noch seien vielen großen Häusern diesbezüglich aber die Hände gebunden, da sie nicht über die entsprechenden Blockchain-Lizenzen und das nötige Know-how verfügten. Perspektivisch müssten sich Großbanken für bestimmte Bereiche innerhalb des Blockchain-Trends entscheiden und versuchen, dort eine starke Position aufzubauen. „Ein Beispiel wäre die Vermögensverwaltung, in der Finanzinstitute ihren Kunden wohl verstärkt Anlagemöglichkeiten in der Blockchain-Sphäre zugänglich machen werden“, führt Bauke aus.

Tatsächlich tummelt sich bereits eine wachsende Zahl an Assetmanagern und Produktanbietern im Segment. Der Großteil legt das Investmentthema dabei über börsengehandelte Schuldverschreibungen (ETNs) auf einzelne Kryptowährungen oder Körbe aus mehreren Cyberdevisen recht eng aus. So sind über Xetra, das elektronische Handelssystem der Deutschen Börse, inzwischen fast 50 ETNs auf zehn verschiedene Digitalwährungen sowie fünf Basket-Vehikel verfügbar. Unterdessen werfen einige Anbieter das Netz mit Blockchain-ETFs schon weiter aus. Vorreiter ist die US-Investmentgesellschaft Invesco, die ihren Coinshares Global Blockchain ETF bereits im März 2019 lancierte. Gegenüber der Benchmark, dem Sektorindex MSCI World Information Technology, hat der börsengehandelte Indexfonds seither eine deutliche Outperformance hingelegt und kommt inzwischen auf ein Volumen von knapp 860 Mill. Dollar. Mittlerweile haben auch Van Eck, Global X und die auf Kryptovehikel spezialisierte ETC Group mit eigenen Blockchain-Passivprodukten nachgezogen.

Größte Position in den Vehikeln aller vier Anbieter ist, passend zum DeFi-Trend, die Aktie der Kryptobörse Coinbase. Die Betreiber der Handelsplattform hatten im April 2021 per Direktlisting den Sprung an die US-Technologiebörse Nasdaq gewagt, was Kryptoenthusiasten als Durchbruch für die Blockchain-Welt auf dem Weg in den Finanz-Mainstream feierten. Seit dem fulminanten Handelsdebüt, nach dem Coinbase zeitweise auf eine höhere Marktkapitalisierung kam als die großen amerikanischen Börsenbetreiber CME Group und Intercontinental Exchange, ist die Euphorie aber deutlich abgekühlt. Gegenüber dem Referenzpreis vor dem Direktlisting lag die Coinbase-Aktie Mitte Februar um 17 % im Minus, im Vergleich zum Eröffnungskurs des ersten Handelstags beläuft sich der Abschlag sogar auf 46 %.

Größeres Angebot erwartet

Dennoch ist der Optimismus für den Titel groß: Laut dem Informationsdienstleister Bloomberg raten 20 von 27 Analysten, die Coinbase regelmäßig beobachten, zum Kauf der Aktie – dem stehen lediglich zwei Verkaufsempfehlungen gegenüber. Zu den Optimisten gehören auch die Marktstrategen der New Yorker Investmentbank Needham, die auf Sicht von zwölf Monaten ein Kursziel von 420 Dollar formulieren. Gegenüber dem Mitte Februar erreichten Niveau würde die Aktie ihren Wert damit mehr als verdoppeln.

Coinbase sei das führende Bindeglied zwischen der auf Fiatwährungen basierenden Finanzwelt und der Digital-Asset-Sphäre. Die Anwendungen der Kryptobörse im Retail-Segment seien äußerst nutzerfreundlich, während auch das Over-the-Counter-Angebot für institutionelle Investoren aufgrund der schnellen Ausführung und Liquiditätstiefe an Momentum gewinne. Mit zunehmender Reife des Kryptomarkts werde auch der institutionelle Anteil am Handel stark wachsen. Zugleich konzentriere sich Coinbase darauf, schnell neue Kryptoassets zu listen. Dies sei für die Plattform entscheidend, um ihre Marktanteile im Privatanleger-Segment zu vergrößern. „Längerfristig erwarten wir, dass das Unternehmen sein Angebot um eine Vielzahl Kryptobezogener Finanzdienstleistungen ausweiten wird“, kommentieren die Needham-Analysten.

Auch die Marktexperten von Bloomberg Intelligence sehen Coinbase in einer starken Position, um eine geschäftliche Expansion voranzutreiben. Das Unternehmen sei mit einer robusten Liquidität ins Jahr gestartet und verfüge über Cash-Reserven in Höhe von 6,35 Mrd. Dollar, denen langfristige Schulden von 3,38 Mrd. Dollar gegenüberstünden. Vor 2025 würden keine Kredite fällig, zugleich sei Coinbase in der Lage, einen starken Cashflow zu generieren. Somit besitze die Kryptobörse gegenüber Wettbewerbern signifikante Vorteile und könne ihre Wachstumsziele sowohl organisch als auch durch strategische Übernahmen vorantreiben.

Allerdings dürfte der Börsenerfolg von Coinbase recht stark an die Entwicklung von Cyberdevisen wie Bitcoin gekoppelt sein. Sollten Digitalwährungen, zum Beispiel aufgrund einer zunehmend feindlichen Regulierung, in einen Bärenmarkt abgleiten, würde das laut Analysten wohl auch die Handelsumsätze an den Kryptobörsen belasten. Anleger, die mit Blick auf dieses Risiko onservativere Partizipationsmöglichkeiten suchen, finden zum Beispiel in der Aktie der CME Group einen Zugang. Der Betreiber der weltgrößten Terminbörse hat sein Kryptoangebot in den vergangenen Jahren massiv ausgebaut und Futures sowie Micro-Futures auf Bitcoin und Ether lanciert. Zugleich ist die CME auch in zahlreichen anderen Assetklassen wie Aktien oder Rohstoffen unter den führenden Derivate-Handelsplätzen.

Natürlich erstreckt sich der Blockchain-Trend nicht nur auf Börsenbetreiber, sondern auch auf Zahlungsdienstleister wie Block, Mining-Unternehmen wie die bei Analysten äußerst beliebte Riot Blockchain sowie Konzerne außerhalb des Finanzsektors. „Anwendungsfälle gibt es nahezu in jeder Branche: Angefangen bei der Durchführung von Arzneimittelstudien bis hin zur Nachverfolgung bedrohter Tier- und Pflanzenarten“, betont auch Newton-Portfoliomanager Sumner.

Zudem gelten dezentrale Technologien insbesondere in der Logistik als vielversprechend. Laut dem „Global Blockchain Survey“ von Deloitte zählt die Lieferkettenverfolgung zu den zehn meistgenannten Anwendungsgebieten. Denn durch Blockchain-Lösungen lassen sich Güter präzise lokalisieren. „Das internationale Transport- und Logistikunternehmen Maersk schätzt, dass die Verwaltung und Bearbeitung von Handelsdokumenten ein Fünftel der gesamten Transportkosten ausmacht“, sagt Sumner. „Track and Trace“-Lösungen ermöglichten das Abrufen von Sendungsereignissen in Echtzeit, verarbeiteten riesige Datenströme und Informationen für das Risikomanagement und senkten Kosten, weil menschliche Fehler infolge manueller Eingaben vermieden würden. „Diese neuen Lösungen haben den weltweiten Handel bereits heute um fast 2 Bill. Dollar jährlich erhöht“, betont der Portfoliomanager.

Verstärkte Kundenbindung

Dabei steht der Einsatz von Blockchain in der Logistik laut Marcu noch am Anfang, entsprechend stark würden voraussichtlich die Wachstumsraten über die kommenden beiden Jahrzehnte ausfallen. Laut Christopher Mellor, Leiter des ETF-Produktmanagements von Invesco für Europa, den Nahen Osten und Afrika, realisiert eine steigende Zahl an Unternehmen das diesbezügliche Potenzial. So habe die von Mærsk und IBM entwickelte Blockchain-Logistikplattform Tradelens in den vergangenen Monaten noch einmal kräftigen Zulauf von Reedereien wie Hapag-Lloyd und Ocean Network Express erhalten.

Belvoir-Chef Bauke verweist zudem auf die Luxusbranche, deren Vertreter Blockchain-Lösungen bereits zunehmend nutzten, um die Authentizität ihrer Produkte zu belegen und sicherzustellen, dass die verwendeten Materialien aus nachhaltigen Quellen stammten (vergleiche „Gewinne mit Luxus“ ab Seite 40 in dieser rendite). Und auch in der Nahrungsmittelindustrie seien Tracking-Lösungen auf dem Vormarsch. „Konsumenten können somit künftig nachvollziehen, von welchem Bauern ihre Lebensmittel tatsächlich kommen, welche Pestizide oder Dünger verwendet wurden oder ob Tierprodukte aus ökologischer Haltung stammen“, führt Bauke aus. Das erhöhe die Transparenz, stärke das Vertrauen und steigere die Bindung zwischen Konsument und Produzent. Damit die Mitte der Wirtschaft den Blockchain-Trend noch schneller adaptiere, muss laut Bauke aber zunächst das Wissen über die Technologie wachsen. „Junge Entwickler, die über hohe Distributed-Ledger-Kompetenzen verfügen, gehen heute in der Regel nicht zu Konzernen aus der alten Wirtschaft, sondern zu neuen Herausforderern“, sagt der Belvoir-Capital-CEO. 

Einige traditionelle Konzerne schrecken zudem noch aufgrund regulatorischer Risiken vor dem Einstieg ins Blockchain-Segment zurück. „Wir sehen die zunehmende Regulierung positiv für das Blockchain-Thema“, betont Sumner allerdings. Klare Regeln von Aufsichtsbehörden sollten dabei helfen, die Blockchain-Akzeptanz zu beschleunigen und den Anlegerschutz in der Welt digitaler Vermögenswerte sicherzustellen. Das abstrakte  Investmentthema Blockchain dürfte also bald für eine wachsende Zahl an Marktteilnehmern greifbar werden.

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