GELD ODER BRIEF

Clariant versucht den Neuanfang

Von Daniel Zulauf, Zürich Börsen-Zeitung, 11.12.2020 Ein niedriger Kurs allein ist noch lange kein Grund, eine Aktie zu kaufen. Notorische Value-Investoren sahen sich im zurückliegenden Coronajahr zum wiederholten Mal mit dieser Binsenwahrheit...

Clariant versucht den Neuanfang

Von Daniel Zulauf, ZürichEin niedriger Kurs allein ist noch lange kein Grund, eine Aktie zu kaufen. Notorische Value-Investoren sahen sich im zurückliegenden Coronajahr zum wiederholten Mal mit dieser Binsenwahrheit konfrontiert. Wer Erfolg mit der Trüffelmethode haben will, braucht eben Ausdauer und einen Plan. An beidem herrscht bei Clariant-Chef Hariolf Kottmann kein Mangel. Tatsächlich war der 65-jährige Deutsche in seiner inzwischen zwölfjährigen Zeit als “Spiritus Rector” des Schweizer Spezialchemieherstellers auch in schwierigen Phasen nie um eine langfristige Entwicklungsidee verlegen. Im Kreis seiner Aktionäre dürfte es noch einige Trüffelsucher geben. Tatsächlich ist der Aktienkurs unter Kottmann um über 160% gestiegen.2008, bei Kottmanns Ankunft, war Clariant ein perfektes Objekt für wertorientierte Investoren. Der Konzern war stark, verzettelt, hoch verschuldet und insgesamt viel zu wenig profitabel. Die überfällige Restrukturierung ging zunächst flott voran. Der Aktienkurs erholte sich von anfänglich unter 4 sfr auf bis zu 20 sfr und sogar noch etwas mehr. Doch plötzlich ging alles viel schneller. Im Mai 2017 kündigte Kottmann die Fusion mit der amerikanischen Huntsman-Gruppe an. Ein Riesenschritt, der Clariant von einem Unternehmen mit einem Jahresumsatz von rund 6 Mrd. sfr in eine 15-Mrd.-sfr-Struktur hochkatapultieren sollte. Ehrgeiziges VorhabenDas ehrgeizige Vorhaben rief eine neue Kategorie von Investoren auf den Plan. Solche, die plötzlich erkannten, dass Clariant in den zurückliegenden neun Jahren gute Arbeit geleistet hatte. Deshalb erhielten die Schweizer auch die Chance, den Zusammenschluss mit dem fast doppelt so großen US-Mitbewerber mindestens auf Augenhöhe zu gestalten. Quasi über Nacht gelangte Clariant in den Fokus einer neuen Investorenklasse. Einer Klasse, die nicht mit der feinen Nase durch die Wälder streift, um wertvolle Pilze zu finden. Eher solche, die sich gern schnell und deftig verköstigen. Amerikanische Hedgefonds-Manager schafften es, die Fusion zu verhindern. Doch beim Griff nach der Macht stand ihnen Kottmann im Weg. Dieser fand Anfang 2018 im saudischen Chemieunternehmen Sabic einen “weißen Ritter”. Und mehr als das. Er fand auch einen Plan, wie der im ersten Versuch gescheiterte Wachstumsschritt mit Sabic doch noch zu schaffen wäre. Der Aktienkurs ging auf nahezu 30 sfr hoch. Doch die Börse baute sich ein Schloss auf sandigem Grund.Im Sommer 2019 löste sich auch Kottmanns zweiter Plan in Luft auf. Ein Assettausch mit Sabic scheiterte offiziell an unterschiedlichen Preisvorstellungen der beiden Parteien. Tatsächlich dürfte zwischen den beiden Firmen aber schlicht ein unüberwindlicher kultureller Graben aufgegangen sein. Heute, weitere 18 Monate später, ist einiges wieder wie vorher: Ernesto Occhiello, der im Oktober 2018 von Sabic zu Clariant gekommen war, um die von Kottmann ersonnene Zusammenarbeit als CEO operativ zu begleiten, ist in alter Funktion zurück bei den Saudis. Kottmann seinerseits darf sich noch einmal als nichtoperativer Chef des Verwaltungsrates versuchen. Am vergangenen Mittwoch hat er mit dem Niederländer Conrad Keijzer endlich, nach eineinhalb Jahren, einen Nachfolger für Occhiello gefunden.Doch der gescheiterte Sabic-Plan hat auch vieles verändert. Das sieht man besonders gut an der Börse. Der Aktienkurs bewegt sich nur mehr bei knapp 18 sfr. Die Marktkapitalisierung von etwa 6 Mrd. sfr impliziert ein aktuelles jährliches Gewinnpotenzial von 250 Mill. sfr bis höchstens 350 Mill. sfr, wovon die pandemiebedingt zurückgestellte ordentliche Dividende von 0,55 sfr pro Aktie etwas mehr als die Hälfte verschlingen würde.Die einstigen akquisitorischen Wachstumsprojektionen sind einem Fokussierungsplan gewichen. Offiziell ist bei Clariant jetzt die Rede von der zweiten Phase der laufenden Restrukturierung. Der Verkauf der in ihre Einzelteile zerlegten früheren Konzerndivision Plastics & Coatings ist im vollen Gang. Für den Desinvestitionserlös aus dem Verkauf dreier reifer Geschäftsbereiche wurden die Aktionäre bereits im Frühjahr mit einer Sonderdividende von rund 1 Mrd. sfr entschädigt. Statt in eine zweistellige Milliardendivision zu wachsen, fällt der Umsatz von Clariant von vormals rund 6 auf 4 Mrd. sfr zurück. Die Strukturen werden dem engeren Kleid angepasst. 1 600 Stellen werden abgebaut. So klein, wie Clariant demnächst sein wird, war das Unternehmen seit seiner Gründung im Jahr 1995 nie mehr. Das Rückbauprogramm kostet Clariant mehr als 100 Mill. sfr und wird die Rechnung noch einige Zeit belasten. Doch in absehbarer Zeit wird sich diese durch die geplanten jährlichen Einsparungen von bis zu 130 Mill. sfr aufhellen.Was am Mittwoch bei der Bekanntgabe des neuen CEO auffiel: Großaktionärin Sabic (30,5 %) hat sich explizit hinter dessen Wahl gestellt. Bemerkenswert ist dies vor allem vor dem Hintergrund, dass die Zusammenarbeit zwischen Kottmann und den Saudis in den vergangenen 18 Monaten alles andere als konstruktiv gewesen sein soll, wie aus dem Umfeld von Clariant zu vernehmen ist. Das ist ein Indiz dafür, dass der Konzern wieder mehr Gestaltungsfreiheit erhält. Welche Pläne Sabic mit ihrem Clariant-Anteil genau verfolgt, bleibt zwar weiterhin unklar. Doch nach dem Desinvestitionsprogramm von Clariant ergibt die Verbindung der beiden Firmen keine industrielle Logik mehr. Deshalb ist Kottmanns Beteuerung glaubwürdig, dass Sabic keine Absicht verfolgt, den Anteil zu erhöhen. Die Saudis haben für den Kauf des Clariant-Anteils allerdings weit über 25 sfr pro Aktie bezahlt, weshalb sie alles Interesse daran haben, Keijzers Arbeit konstruktiv zu begleiten. Clariant hat die Basis für einen Neustart gelegt. Und wer Kottmann kennt, kann sich schlecht vorstellen, dass er die Firma nach gelungener Restrukturierung nicht noch einmal mit einem größeren Deal nach vorne bringen will. In diesem Klima könnte Clariant bald wieder diesen Geruch aussenden, den die besten Trüffelsucher schon aus der Ferne riechen.