Im Interview:Anuj Arora, J.P. Morgan

„Der wichtigste Faktor ist der Dollar“

Der Dollar schwächelt und die Leitzinsen sinken. J.P. Morgan-Experte Anuj Arora erklärt im interview der Börsen-Zeitung, warum das Emerging Markets so attraktiv macht und welche Frage man zu China eigentlich stellen sollte.

„Der wichtigste Faktor ist der Dollar“

Im Interview: Anuj Arora

„Der wichtigste Faktor ist der Dollar“

J.P. Morgan-Stratege sieht starke Ausgangsposition für Schwellenländer – KI hat in China gerade erst begonnen – Südkorea bereits sehr stark gestiegen

Der Dollar schwächelt und die Leitzinsen sinken. J.P. Morgan-Experte Anuj Arora erklärt im interview der Börsen-Zeitung, warum das Emerging Markets so attraktiv macht, welche Frage man zu China eigentlich stellen sollte und welche Schwellenländer nun das meiste Potenzial versprechen.

Herr Arora, für Sie sind Emerging-Markets-Aktien heute attraktiver als in den vorigen fünf Jahren. Warum?

Der wohl wichtigste Faktor ist der Dollar. Das ist das bedeutendste makroökonomische Ereignis in diesem Jahr. Der Dollar hat begonnen, unterdurchschnittlich abzuschneiden. In den vergangenen zehn bis 15 Jahren befanden wir uns in einem Dollar-Bullenmarkt. Der Dollar hat kontinuierlich an Boden gewonnen. Doch nun ist seine Dominanz in Frage gestellt. Es ist interessant, was am Liberation Day passiert ist. In dieser Woche fiel der S&P ebenso wie die Märkte in Europa um 10%, aber auch der Dollar verlor 10%. Das ist ungewöhnlich, denn der Dollar gilt als sicherer Hafen. Aber auch er ist gefallen. Bereits Ende 2023 hatte er seinen Höhepunkt erreicht und ist real seitdem gefallen. Die Schwellenmärkte sind im gleichen Zeitraum wiederum rund 50% gestiegen.

Wie funktioniert diese negative Korrelation?

Im Grunde genommen funktioniert die ganze Welt nach einem Kern-Peripherie-Modell. Der Kern ist die US-Wirtschaft. Sie ist bei weitem die größte Volkswirtschaft der Welt und das Zentrum aller wirtschaftlichen Aktivitäten. Wenn es der US-Wirtschaft gut geht, fließt Kapital aus der gesamten Peripherie in die USA. Für den Rest der Welt bedeutet das quasi eine monetäre Straffung, und insbesondere die Schwellenländer leiden unter Kapitalmangel. Wenn die Schwellenländer-Währungen fallen, weil das Geld in den Dollar abfließt, erhöhen deren Zentralbanken die Zinsen, um die Währung zu schützen. Wenn sie die Zinsen erhöhen, verlangsamt sich die lokale Wirtschaft aber noch mehr. Dann schneidet die US-Wirtschaft relativ noch besser ab, und der Zyklus setzt sich weiter fort. Diese Währungszyklen sind sehr lang. Sie werden nicht in Monaten gemessen, sie dauern fünf bis zehn Jahre. Und aufgrund der Art und Weise, die ich gerade beschrieben habe, ist es sehr schwierig, diesen Zyklus zu durchbrechen.

Und wie geht es jetzt weiter?

Wenn man davon ausgeht, dass der Dollar seinen Höchststand erreicht hat, dann kehrt sich der Zyklus im Grunde genommen um. Nehmen wir das Beispiel Brasilien. Brasilien hat derzeit Zinssätze von 15%, und die Inflation liegt bei 5%. Damit hat Brasilien Realzinsen von fast 10%, was für jede Wirtschaft eine enorme Belastung ist. Trotzdem konnte Brasilien die Zinsen nicht senken, weil erstens der Dollar stieg und zweitens die Fed die Zinsen nicht senkte. Jetzt hat sich beides geändert: Der Dollar ist gefallen und die Federal Reserve senkt die Zinsen. Brasilien kann die Zinsen daher um 300 bis 500 Basispunkte senken und wird immer noch Realzinsen von 5-6% haben. Dank erster Zinssenkungen boomt die Binnenwirtschaft. Die Menschen kaufen wieder Autos und Häuser, Banken vergeben mehr Kredite, Verbraucher kaufen mehr ein. So kommt es zu einem wirtschaftlichen Multiplikatoreffekt, und Brasilien schneidet relativ besser ab als die USA.

Und die anderen Schwellenländer?

Brasilien ist ein Extremfall, aber wenn man sich andere Schwellenländer in Lateinamerika oder in Südostasien oder sogar China ansieht, gibt es viele mit hohen Realzinsen. Das Potenzial für eine geldpolitische Lockerung in den Schwellenländern ist also sehr hoch, während es in den Industrieländern dagegen begrenzt ist. Das ist ein entscheidender Punkt. Der wichtigere Punkt aber ist, dass sich der Dollar möglicherweise in einem neuen Regime befindet. Wir brauchen keinen weiteren Rückgang, er muss nur nicht weiter steigen. Aufgrund der höheren Inflation in den USA verliert er im Vergleich zu vielen anderen Ländern der Welt real an Wert. Und das sollte für die Schwellenländer ausreichen, um die Zinsen zu senken.

Zuletzt waren es vor allem Tech und KI, die die Aktienmärkte angetrieben haben. Wie sieht es da bei den Emerging Markets aus?

Technologie ist ein sehr interessanter Aspekt. In den vergangenen zehn Jahren standen Softwareunternehmen wie Facebook und Google im Fokus. Diese Unternehmen sind wirklich sehr groß geworden. In diesem Jahrzehnt dreht sich alles um Hardware. Nvidia hat eine Bruttomarge von 75%. Es gibt kaum ein produzierendes Unternehmen, das eine solche Marge hat. Die Realität sieht jedoch so aus, dass die gesamten Komponenten, die Nvidia benötigt, in Asien hergestellt werden. Sie werden in Korea und Taiwan produziert, einige Teile auch in Japan und in Südostasien, in China. Für die neuen Speicher namens HBM – High Bandwidth Memory – gibt es weltweit nur zwei große Hersteller. Einer davon ist Micron in den USA, und der andere ist SK Hynix in Korea. Ohne SK Hynix kann keine Nvidia-GPU produziert werden. Trotzdem wird SK Hynix nur mit einem Drittel des KGV von Nvidia gehandelt. Ähnlich Taiwan Semiconductor, das alle Chips für Nvidia liefert. Diese Unternehmen sind im Vergleich also sehr günstig bewertet.

Und was schließen Sie daraus?

Wenn man davon ausgeht, dass wir uns mit der KI in einer neuen industriellen Revolution befinden und dass es sich dabei nicht um eine große Blase handelt, dann wird sich dieser Trend noch fünf oder zehn Jahre fortsetzen. Asien erscheint wirklich attraktiv, weil es die Komponenten liefern wird, die die Welt benötigt. Dazu kommt, dass China im Grunde genommen von der westlichen KI-Geschichte abgekoppelt ist. Darum produzieren sie alles intern. Wir sehen jetzt quasi eine chinesische Version des KI-Films mit anderen Schauspielern. Es gibt kein Nvidia, kein OpenAI, kein Micron. Und wenn man sich an der Entwicklung in den USA orientiert, dann hat dieser chinesische Film noch einen langen Weg vor sich, denn er hat erst in diesem Jahr begonnen. China erfindet im Grunde genommen die gesamte Lieferkette neu. Alle paar Wochen werden neue Unternehmen gegründet, die sich mit Bereichen wie Kühlung oder IP oder der Lieferung von Chips befassen. Und dann schießen sie durch die Decke.

Das spricht also für Investitionen in China?

Es ist viel los im chinesischen Internet-Sektor, und es gibt allen Grund zu der Annahme, dass noch mehr Innovationen kommen werden, besonders wenn man sich die westliche Version dieses Films ansieht. China bietet eine völlig unkorrelierte, differenzierte Möglichkeit, in KI zu investieren. Wenn beispielsweise morgen OpenAI schließen würde, was würde das für China bedeuten? Nichts. OpenAI ist dort nicht tätig. Tatsächlich könnten sich die chinesischen Lösungen verdoppeln, weil die Welt dann eine andere Alternative braucht. Und ich denke, das führt zu der Frage nach China als Ganzes. Ist China investierbar? Was ist mit dem Immobiliensektor? Was ist mit der Deflation? Für mich sind das alles jedoch die falschen Fragen, die man zu China stellt.

Und wie lautet die richtige Frage?

Die richtige Frage zu China lautet: Wie kann man während einer Deflation in China investieren? Ein gutes Beispiel ist Japan, in den vergangenen zehn Jahren der zweitbeste Markt der Welt. Gleichzeitig befand sich Japan in den vorigen 15 Jahren in einer Deflation. Das bedeutet also nicht, dass der Aktienmarkt fallen muss. Deflation bedeutet nur, dass man anders investiert. Denn Deflation bedeutet, dass das nominale Wachstum niedriger ist als das reale Wachstum. Die Anleiherendite in China liegt bei 1,7%. Wenn eine Aktie mir eine Dividendenrendite von 6% einbringt und zudem durch Staatsanleihen abgesichert ist, dann sieht das wirklich sehr, sehr attraktiv aus.

Was ist mit der Immobilienkrise?

Im Moment fehlt den chinesischen Verbrauchern die Kaufkraft, weil die Immobilienpreise immer noch fallen. Das wird sich mit der Zeit klären, und die chinesischen Verbraucher werden mit einem Paukenschlag zurückkommen. Dieser Tag ist noch nicht gekommen, aber perspektivisch. Das bedeutet aber nicht, dass China nicht investierbar ist. Das sind wie gesagt die falschen Fragen. Es gibt vielmehr großes Alphapotenzial, das man in China erzielen kann. Es ist der zweitgrößte Aktienmarkt und die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt.

Was ist mit Indien?

Indien ist die einzige große Volkswirtschaft der Welt, die in den nächsten fünf Jahren ein reales BIP-Wachstum von über 5% erzielen wird. Und in Indien liegt die Inflation ebenfalls bei 5%. Also nominal liegt das Wachstum bei fast 10%. Das ist also eine ziemlich überzeugende Geschichte. Das Problem war, dass alle diese Geschichte erkannt haben. Dadurch wurde Indien wirklich sehr, sehr teuer. Das bedeutet nicht, dass das Gewinnwachstum verschwunden ist, nur, dass man viel zu viel dafür bezahlt hat. Jetzt sind viele dieser Unternehmen mit hohen Bewertungen gefallen. Wenn Ihre Gewinne weiter um 10, 15% pro Jahr wachsen, werden sie ziemlich schnell wieder attraktiv. Sollte sich dieser Trend noch sechs bis neun Monate fortsetzen, wird Indien schnell wieder sehr interessant werden.

Was ist mit Trumps Zöllen?

Die Zölle sorgen für viel Volatilität bei relativ geringen wirtschaftlichen Auswirkungen. Wenn man sich den börsennotierten Sektor ansieht, selbst in China, lässt sich feststellen, dass 70 bis 80% der Einnahmen des börsennotierten Sektors aus inländischen Quellen stammen. Auch Indien ist ein Paradebeispiel dafür. Es exportiert nicht wirklich viel. Der Großteil der Einnahmen des börsennotierten Sektors stammt aus dem Inland. Die beiden Länder mit hohem Exportanteil sind Korea und Taiwan, aber dort ist die Situation anders. Wenn man nach Indonesien, Indien oder sogar China sieht, gibt es dort eine große Binnenkonjunktur. Wirtschaftlich gesehen haben die Zölle daher keine große Bedeutung. Und es gibt eine sehr, sehr lange Geschichte, die uns lehrt, dass das Land, das die Zölle erhebt, am Ende die Kosten für die Zölle tragen muss. Das ist einfache Wirtschaftsmathematik und wird wahrscheinlich auch diesmal wieder passieren.

In welchen Ländern sehen Sie aktuell die größten Chancen? Sind das die Länder in Asien?

Bis vor sechs Monaten hätte ich ohne zu zögern Korea gesagt. Korea sah wirklich, wirklich günstig aus. Es hatte alle Merkmale einer KI-Story, aber keinen Bewertungsaufschlag. Ende vorigen Jahres haben sie dort mit einer Reform der Unternehmensführung begonnen, was zu Beginn des Jahres ebenfalls ein äußerst wirkungsvolles Thema war. Ich hätte also Korea gewählt, aber das Problem ist, dass Korea in diesem Jahr bereits um 90% gestiegen ist. Das bedeutet nicht, dass es unattraktiv ist. Es bedeutet aber, dass ein Großteil des Aufwärtspotenzials schon ausgeschöpft ist. Daher würde ich mich derzeit wahrscheinlich für Brasilien entscheiden. Die Makroökonomie sieht sehr günstig aus. Die Währung scheint nicht teuer zu sein, und die Bewertungen sehen sehr günstig aus.

Brasilien hat von Trump aber ziemlich hohe Zölle bekommen, oder nicht?

Wie viel exportiert Brasilien in die USA? Es ist nicht wirklich viel. Die größten Exportgüter Brasiliens sind Eisenerz und Öl. Und das meiste davon geht nach China. Wirtschaftlich gesehen sind die Auswirkungen der Zölle daher begrenzt.

Das spricht also auch für Emerging Markets?

Ja. Und es gibt noch ein weiteres Argument: Die Verschuldung der Industrieländer ist so hoch wie noch nie in Friedenszeiten. Dieses Geld, das von den Regierungen ausgegeben wird, wird zu Investitionsausgaben. Es fließt jedoch nicht in Software, es  fließt in etwas Greifbares: Straßen, Brücken, Soziales, Umwelt und mehr. Die Schwellenländer sind nach wie vor die Fabriken der Welt. Wenn viele Industrienationen also Billionen Dollar mehr ausgeben als im vorigen Jahr, dann kommt das Geld auch zu den Schwellenländern. So lange dieser Boom bei den Investitionsausgaben und dem Haushaltsdefizit anhält, werden sich die Emerging Markets gut entwickeln.

Zur Person: Anuj Arora ist Managing Director und Leiter des Emerging Market and Asia Pacific (EMAP) Equities Teams sowie Portfoliomanager bei J.P. Morgan Asset Management. Von 2006 bis 2012 arbeitete er zunächst im New Yorker Team für Schwellenländer-Aktien, bevor er 2012 nach London wechselte. Ab 2015 leitete er den Quantitative Council von J.P. Morgan Asset Management, ein Forum für quantitative Investoren und Analysten über verschiedene Anlageklassen hinweg. Von Januar 2016 bis September 2021 verantwortete er zudem das Global Emerging Markets Core Team, bevor er die Rolle als Head of EMAP übernahm. 

Das Interview führte Tobias Möllers.