Wer macht die Zinspolitik – die Notenbanken oder der Kapitalmarkt?
Gastbeitrag: Anlagethema im Brennpunkt (332)
Märkte zu optimistisch bei Zinssenkungen?
Die Euphorie an den globalen Anleihemärkten ist groß. Die Mehrheit der institutionellen Investoren erwartet einen weiteren Rückgang der Anlagerenditen und schichtet dementsprechend in festverzinsliche Wertpapiere um. Diese optimistische Haltung beruht vorrangig auf der Antizipation von umfangreichen Leitzinssenkungen im Laufe des Jahres 2024. Derzeit werden vom Markt sechs bis sieben Zinssenkungen durch die Federal Reserve und fünf bis sechs durch die Europäische Zentralbank eingepreist. Aus unserer Perspektive erscheint diese Erwartungshaltung aus drei Gründen sehr ambitioniert.
Erstens entwickelt sich die Wirtschaft in den Vereinigten Staaten deutlich besser als von vielen erwartet. Anstatt in eine Rezession abzurutschen, wächst die amerikanische Wirtschaft – den hohen Zinsen zum Trotz – stetig weiter. Obwohl geldpolitische Maßnahmen in der Regel mit Verzögerung wirken, deutet einiges darauf hin, dass die restriktive Geldpolitik vorerst nicht zu einer stärkeren Dämpfung der Konjunktur führt. Gestützt durch expansive Maßnahmen der US-Regierung zeigen sich Konsum und Investitionen als außerordentlich robust. Hinzu kommen steigende Exportaktivitäten, insbesondere im Energiebereich. Auch die jüngsten kurzfristigen Indikatoren zeigen keinen Rückgang des Wachstums an. Ganz im Gegenteil: Die Atlanta Fed rechnet für das erste Quartal 2024 mit einem annualisierten Wirtschaftswachstum von 3,4%. Angesichts dieser Stärke dürfte es der Fed schwerfallen, die Zinsen in großem Umfang zu senken.
Zweitens sind Inflationsraten von unter 1%, wie sie Mitte des vergangenen Jahrzehnts vorherrschten, auf mittlere Sicht unwahrscheinlicher geworden. Stattdessen sind erhöhte Teuerungsraten um die 2,5% vorstellbar, wie sie in den 1990er Jahren beobachtet wurden. Die Arbeitslosenquoten befinden sich in den Vereinigten Staaten und in der Eurozone auf historisch niedrigem Niveau. Zusätzlich führt der demografische Wandel zu einer Verknappung des Arbeitsangebots. Unterstützt durch die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften können die Arbeitnehmer signifikante Lohnerhöhungen erzielen, die wiederum die Inflation anheizen. Verstärkt wird dieser Trend durch zahlreiche geopolitische Konflikte, die Rohstoffpreise nach oben treiben und Lieferketten negativ beeinflussen können. Bleibt die Inflation über dem Zentralbankziel von 2%, sind umfangreiche Zinssenkungen nur schwer zu begründen.
Prognose schwierig
Drittens tun sich die Märkte mit einer akkuraten Prognose der Leitzinsentwicklungen im Allgemeinen schwer. Investoren verwenden den Futures-Markt, um auf die Richtung der Zentralbankpolitik zu setzen. Allerdings scheinen die Erwartungen der Anleger dabei oft von ihren jüngsten Erfahrungen beeinflusst. Beispielsweise prognostizierten Anleger in den fünf Jahren nach der Finanzkrise wiederholt – und fälschlicherweise –, dass die Zinssätze wieder ansteigen würden. Zuletzt hatten die Märkte mehrfach das vorzeitige Erreichen des Zinsgipfels bei Niveaus zwischen 3,5% und 5% und einen nachfolgenden Zinsrückgang eingepreist. Mit einer Anhebung des Leitzinses durch die Fed auf knapp 5,5% wurde nicht gerechnet, geschweige denn damit, dass dieser so lange auf diesem Niveau verharren würde.
Es scheint, als hätte sich der Markt beim Thema Zinssenkung selbst überholt. Wenn die fundamentalen Wirtschaftsdaten so stabil bleiben wie bisher und wenn die Inflationsraten weiterhin über dem anvisierten Zentralbankziel liegen, ist der derzeit erwartete Umfang der Leitzinssenkungen – zumindest in den USA – nicht gerechtfertigt. Dementsprechend sind wir im Bereich der risikoarmen Staatsanleihen eher zurückhaltend eingestellt; für chancenreichere Unternehmensanleihen im kurzen und mittleren Laufzeitbereich bleiben wir aber konstruktiv, da hier einige Bereiche des Anleihemarktes attraktive Renditen aufzeigen.