Der Finanzplatz Schweiz ist gefordert
Unter den 2700 Mitarbeitenden, welche die Credit Suisse im Rahmen des Konzernrückbaus noch vor dem Jahresende verabschiedet, hat jede oder jeder Fünfte den Arbeitsplatz in der Schweiz. Das ist ein Schock für den Schweizer Finanzplatz, und er ist umso größer, als die Massenentlassungen gerade erst angefangen haben. Die Rosskur wird sich noch bis 2025 hinziehen und weltweit 9000 Arbeitsplätze kosten. Die Vorgeschichte der Misere ist so gravierend wie simpel: Viele Jahre schlechten Managements und eine lange Serie hoher Verluste haben der Bank so schwer zugesetzt, dass das runderneuerte Management keine andere Möglichkeit mehr sah, als der Geschichte ein Ende mit Schrecken zu bereiten. Diese tiefgreifende Restrukturierung wird für die Credit Suisse höchstwahrscheinlich den Abschied vom Club der globalen Großbanken bedeuten. Was bedeutet diese Zäsur für die Zukunft des Schweizer Finanzplatzes? Die Frage ist für die ganze Volkswirtschaft relevant. Und dies, obschon der Finanzplatz seit der Finanzkrise vor 15 Jahren bereits einiges an Größe und gesamtwirtschaftlicher Bedeutung eingebüßt hat. Damals, in der Boomphase kurz vor dem Ausbruch der Krise, zählten die Banken in der Schweiz noch fast 120 000 Angestellte, was 3,4 % aller Erwerbstätigen im Land bedeutete. An dem seither erfolgten Beschäftigungszuwachs um insgesamt etwa 20 % oder gut 700 000 Stellen partizipierten die Banken jedoch nicht – im Gegenteil.
Die verschärften Eigenmittelvorschriften, die allen voran den für die Stabilität des Finanzsystems besonders relevanten Großbanken im Nachgang zur Krise auferlegt wurden, zwangen diese, ihre Bilanzen zu schrumpfen und besonders eigenkapitalintensive Tätigkeiten einzuschränken. In der Folge verringerte sich der Anteil der Banken an der Gesamtbeschäftigung in der Schweiz auf aktuell nur mehr 2,6 %. Dennoch hat der Bankensektor noch immer eine für den Wohlstand des Landes relevante Größe. Die überdurchschnittlich produktive Branche hatte 2021 einen Anteil von rund 5 % an der gesamten Wertschöpfung der Schweizer Wirtschaft. Vor der Finanzkrise hatte ihr Anteil noch bei mehr als 7% gelegen. Dass die Schweizer Bankbranche so stark schrumpfen konnte, ohne dass es dadurch zu einem offensichtlichen Wohlstandsverlust gekommen ist, spricht zwar für die Robustheit und die Vielfalt der Volkswirtschaft. Dennoch wird sich eine anhaltende Erosion des Bankensektors wohl eher früher als später negativ auf den Wohlstand auswirken.
Diese Warnung jedoch wird in der Schweizer Politik immer noch erstaunlich selten laut. Das liegt möglicherweise daran, dass man die aktuelle Schrumpfkur der Credit Suisse auch als einen dem Wohlstand des Landes förderlichen Prozess bewerten kann. Tatsächlich will sie sich von ausländischen Tochterunternehmen wie der amerikanischen Investmentbank First Boston lösen, die ihr in den vergangenen Jahrzehnten Milliardenverluste eingebrockt haben. Es stimmt, dass diese Verluste den Wohlstand in der Schweiz geschmälert haben, und zwar insofern, als sie über lange Zeit die Gewinnkraft geschwächt und die Fähigkeit des Konzerns beeinträchtigt haben, höhere Dividenden an die heimischen Aktionäre auszuschütten. Doch diese Optik vernachlässigt den Aspekt des längerfristigen Wachstumspotenzials. Tatsächlich verliert der Schweizer Finanzplatz mit dem Rückbau der Credit Suisse ein Standbein im internationalen Kapitalmarktgeschäft, das ein integraler Bestandteil jedes internationalen Finanzzentrums bildet. Die Finanzierung über die Ausgabe von Schuldpapieren ist ein überaus bedeutendes Geschäftsfeld für Finanzplätze wie London oder Luxemburg. Just in der Schweiz, wo zahlreiche internationale Konzerne ansässig sind, ist dieser Kapitalmarkt aber massiv unterentwickelt.
Die Schweizer Großbanken betreiben ihr Geschäft seit Jahrzehnten größtenteils im Ausland, weil das steuerliche und regulatorische Umfeld ihres Heimatmarkts nicht wettbewerbsfähig ist. Erst im September scheiterte der Anfang 2023 scheidende Finanzminister Ueli Maurer mit dem Versuch an der Urne, die 35-prozentige Verrechnungssteuer auf Zinserträge so zu reformieren, dass die Konzerne ihre Fremdwährungsanleihen künftig wieder in der Schweiz statt in Luxemburg ausgeben. Solche Volksentscheide könnten in Zukunft anders ausfallen, wenn sich die Erkenntnis durchsetzt, dass der Finanzplatz aktiv gepflegt werden muss, um den Wohlstand der Schweiz auf Dauer zu sichern. Im Licht der Krise der Credit Suisse sollte sich die Schweiz nun gefordert fühlen, die Komfortzone zu verlassen und mit dem eigenen Finanzplatz stärker in die Offensive zu gehen. (Börsen-Zeitung, 29.12.2022)