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Ein Aperitif aus Genua

Italien gilt als ein Eldorado der Gastronomie. Doch viele der bekannten Produkte werden gar nicht lokal hergestellt und andere kommen angeblich nicht einmal aus Italien.

Ein Aperitif aus Genua

Notiert in Mailand

Ein Aperitif aus Genua

Oder eine Geschichte vom Mythos der italienischen Gastronomie

Von Gerhard Bläske

In der schmalen Via Canneto il Lungo in Genuas enger Altstadt ist am Wochenende kein Durchkommen. Bis spät in die Nacht drängen sich vor und in der Bar degli Asinelli Jung und Alt, Arm und Reich, Studenten, Arbeiter, Arbeitslose und Professoren. Marco und Stefano, die Betreiber der Bar in einem Palazzo aus dem 16. Jahrhundert, kommen kaum nach mit dem Einschenken des wermutähnlichen Aperitifs „Asinello“: 1,50 Euro kostet das Glas inklusive der berühmten Focaccia, eines Fladenbrots aus Hefeteig mit viel Salz, Olivenöl und Kräutern.

Die einzigartige Atmosphäre gibt es gratis dazu. In der Bar scheint die Zeit seit Jahrzehnten stehen geblieben zu sein. Internetempfang gibt und braucht es nicht. Angesichts der Enge kommt man schnell ins Gespräch. Es bleibt selten bei einem Asinello. Wer den Apero, der auch mit anderen Spirituosen wie Campari, Cynar oder Likören gemixt werden kann, draußen in der Gasse trinken will, bekommt ihn in einem Plastikbecher serviert. Jeder ist willkommen. Nur wer Anhänger des Fußballclubs Sampdoria Genua ist, sollte das nicht laut sagen. Hier sind alle für den Lokalrivalen CFC Genua, den ältesten Fußballverein Italiens, der derzeit um den Wiederaufstieg in die Serie A kämpft. Basis des 1886 kreierten Aperitivo sind ein leichter Weißwein und 19 Kräuter, darunter Absinth, Rhabarber und Enzian aus den umliegenden Bergen. Der Weißwein stammt traditionell aus Trauben des Coronata-Hügels, der aus dem Häusermeer des Industrieviertels Cornigliano herausragt und von einem Kloster gekrönt wird.

Hersteller Vini Allara aus dem Vorort Pra war in diesem Jahr mit einem Stand bei der Weinmesse Vinitaly in Verona präsent. Neben dem Aperitivo mit dem charakteristischen grünen Etikett, das einen Genueser in Tracht und einen Esel (asinello) zeigt, der die Flaschen von dem Hügel herunter nach Genua bringt, wurden auch ein Basilikumlikör und der Kräuterschnaps Amaro Grande Genova angeboten. Unternehmenschef Mauro Allara berichtet, dass viele Besucher aus dem Ausland Interesse an dem leicht bittersüßen Getränk gezeigt hätten. Der Asinello gehört zu Genua wie die grüne Pesto-Soße, die Farinata, ein Fladen aus Kichererbsenmehl, oder die Focaccia. Doch hergestellt wird er längst nicht mehr in Genua – nicht einmal in Ligurien, sondern im Piemont. Auf dem Coronata-Hügel wachsen (fast) keine Trauben mehr. Der Asinello wird aus dem Bianco Cortese DOC Monferrato hergestellt, ebenfalls aus dem Piemont, aber immerhin nach dem (geheimen) Originalrezept und aus ligurischen Kräutern.

So wie der Asinello sind viele italienische Spezialitäten weniger lokal, als man denkt. Für Aufsehen sorgt Alberto Grandi, Professor an der ökonomischen Fakultät der Universität Parma und Spezialist für Unternehmens- und Ernährungsgeschichte. Er räumt auf mit etlichen Mythen der italienischen Küche. So sei ein von italienischen Auswanderern im amerikanischen Wisconsin hergestellter Käse viel näher am ursprünglichen Parmesan als der heute bekannte. Die Spaghetti Carbonara seien eine Erfindung italienischer Auswanderer in die USA, und der Cappuccino sei aus der Vorliebe deutscher Touristen für Kaffee mit Milch entstanden. Italiens Küche war ursprünglich arm, bestand aus satt machenden Produkten wie Polenta, Kastanien, Farinata, Focaccia sowie Pasta. Ihre heutige Form hat sie seit den 50er und 60er Jahren.

Dass Grandi dies ausländischen Medien erzählte und seinem Heimatland Gastronomie-Nationalismus vorwirft, erzürnt Vizepremier Matteo Salvini und den Landwirtschaftsverband Coldiretti. Denn Rom strebt die Aufnahme der italienischen Küche ins immaterielle Unesco-Weltkulturerbe an und kämpft stets für das Made in Italy. Unstrittig ist, dass erst 1985 ein italienisches Restaurant einen Michelin-Stern erhielt. Das erste Drei-Sterne-Lokal war das La Pergola in Rom unter dem bayerischen Chefkoch Heinz Beck, der dort seit 30 Jahren den Kochlöffel schwingt und die oft traditionssteife italienische Küche raffinierter und leichter interpretiert.