Gipfeltreffen

Baustellen ohne Ende bei der WTO

Mit zwei Jahren Verzögerung holt die Welthandelsorganisation ihr Gipfeltreffen nach. An strittigen wie dringlichen Themen mangelt es nicht. Im Fokus stehen der Handel mit Nahrungsmitteln und die Handhabe von Impfstoffpatenten. Der Umgang mit Russland wird zum Balanceakt – auch wegen der WTO-Regeln.

Baustellen ohne Ende bei der WTO

Von Stefan Reccius, Frankfurt

Es ist ein Wiedersehen mit langer Verzögerung und viel Konfliktpotenzial: Die Mitglieder der Welthandelsorganisation (WTO) treffen sich auf höchster Ebene zur Ministerkonferenz – zum ersten Mal seit fast fünf Jahren. Ab Sonntag kommen die Ministerinnen und Minister am Hauptsitz in Genf zusammen. Aus Brüssel reist EU-Handelskommissar Valdis Dombrovskis an. Die Pandemie hat die WTO zweimal zur Verschiebung gezwungen, zuletzt im November. Die 12. Auflage ihres Gipfeltreffens ist auf vier Tage bis Mittwochabend angesetzt. Es kann aber deutlich länger dauern.

Das liegt an der unübersichtlichen Agenda und den vielen Baustellen, um die sich die 164 WTO-Mitglieder gleichzeitig kümmern müssen. Allein die Wunschliste des DIHK hat es in sich: DIHK-Außenwirtschaftschef Volker Treier hofft, dass sich die Minister „auf eine Reformagenda der WTO verständigen, eine WTO-Mittelstandsagenda sowie neue Abkommen in den Bereichen Gesundheit, Umwelt, Investitionen und E-Commerce voranbringen und drohende Zölle auf elektronische Datenübertragungen abwenden“. Am geplanten Abbau von Subventionen für Fischer und Landwirte arbeiten sich die WTO-Mitglieder seit Jahren ab. Wegen aktueller Krisen drängen Themen auf die Agenda, die nicht minder umstritten sind: der Handel mit Nahrungsmitteln und die Handhabe von Impfstoffpatenten.

Der europäische Wirtschaftsverband Business Europe und die US-Handelskammer bezeichnen den WTO-Gipfel als „Feuerprobe für die Effizienz der Organisation und ihre Fähigkeit, auf die aktuellen wirtschaftlichen und handelspolitischen Herausforderungen zu reagieren“. Die politische Großwetterlage stimmt pessimistisch. Der Multilateralismus hat nicht erst durch Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine schweren Schaden genommen. Im Prinzip ist die regelbasierte internationale Zusammenarbeit seit Jahren auf dem Rückzug. Seitdem Ex-US-Präsident Donald Trump Strafzölle gegen China und die EU verhängt hat, sind geopolitische Risiken stark im Fokus der Marktteilnehmer. Ein entsprechender Indikator der Investmentbank Blackrock zeigt, dass der Machtwechsel in den USA nur vorübergehend Erleichterung gebracht hat. Die Hochzeiten des Welthandels sind sogar schon seit der Weltfinanzkrise vorbei (siehe Grafik). Das stellt die internationale Handelsordnung insgesamt in Frage. Die seit 2018 zwischen USA, Europa und China gegenseitig verhängten Strafzölle verstoßen überwiegend gegen WTO-Recht. Zwar ist US-Präsident Joe Biden auf die Europäer zugegangen und erwägt im Kampf gegen die hohe Inflation einen Abbau von Zöllen gegen China. Doch insgesamt sind die USA ihrer konfrontativen Linie in der Handelspolitik auch unter Biden treu geblieben.

Deutlich wird das am Herzstück der WTO: der Streitbeilegung. Unverändert verhindert Washington Nachbesetzungen bei der Berufungsinstanz. Handelskonflikte können deshalb nicht mehr final geschlichtet werden. Fortschritte sind beim WTO-Gipfel kaum zu erwarten. Dem Vernehmen nach ginge es schon als Erfolg durch, wenn eine Arbeitsgruppe mit Reformen beauftragt wird.

Von hoher Brisanz sind die zähen Verhandlungen über Impfstoffpatente. Schwellen- und Entwicklungsländer wollen den Patentschutz wegen der Pandemie aussetzen. Das im Oktober 2020 lancierte Vorhaben scheitert am Widerstand von circa einem Dutzend WTO-Mitgliedern, allen voran die EU-Kommission. Um das Vorhaben aus der Sackgasse zu holen, hat WTO-Chefin Ngozi Okonjo-Iweala es vor wenigen Monaten entnervt zur Chefsache erklärt. Das ist ein ungewöhnlicher Schritt, sind doch gleichberechtigte und auf Konsens ausgerichtete Verhandlungen Wesenskern der WTO.

Kurz vor dem Gipfeltreffen macht Okonjo-Iweala gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters „Bewegung“ in der Sache aus, aber auch „einige schwierige Bereiche“. Es sei „immer noch möglich, dass wir das klären können“. In Kreisen der EU-Kommission heißt es, Rechte des geistigen Eigentums stark aufzuweichen, sei vom Tisch. „Der Patentschutz bleibt“, sagte eine hochrangiger Vertreter der EU-Kommission am Freitag. Es gehe darum, bestehende Spielräume im WTO-Recht besser zu nutzen. Offen ist, ob sich die anderen WTO-Mitglieder damit arrangieren – insbesondere Indien und Südafrika, die Initiatoren des Patentverzichts.

Unterdessen pochen die USA darauf, China keine Ausnahmen beim Patentschutz zu gestatten. Berichten zufolge sorgt dies und entsprechende Einwände Chinas bis zuletzt für Streit. Ein unterschriftsreifes Abkommen liegt dem Vernehmen nach weniger als 48 Stunden vor der offiziellen Eröffnung des WTO-Gipfels am Sonntagnachmittag noch immer nicht vor. Gleiches gilt für die beiden anderen großen Verhandlungsbereiche: Landwirtschaft mit Fokus auf Ernährungssicherheit und Fischereisubventionen.

Ein zusätzlicher Balanceakt wird der Umgang mit Russland, zumal die WTO-Regeln für Beschlüsse die Zustimmung aller 164 Mitglieder verlangen. Bei der Frühjahrstagung von Internationalem Währungsfonds (IWF) und Weltbank verließen Verbündete der Ukraine den Raum, wenn Vertreter Russlands das Wort ergriffen. Dem Vernehmen nach könnte es in Genf ähnlich laufen.

Leitartikel Seite 6

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