NOTIERT IN BRÜSSEL

Belgien mal wieder auf Rekordkurs

Es ist alles eine Frage der Zählweise: Seit der belgischen Parlamentswahl im vergangenen Mai sind mittlerweile knapp 280 Tage vergangen. Rechnet man allerdings noch die Zeit dazu, seit die letzte Koalition im Dezember 2018 zerbrochen ist, dann sind...

Belgien mal wieder auf Rekordkurs

Es ist alles eine Frage der Zählweise: Seit der belgischen Parlamentswahl im vergangenen Mai sind mittlerweile knapp 280 Tage vergangen. Rechnet man allerdings noch die Zeit dazu, seit die letzte Koalition im Dezember 2018 zerbrochen ist, dann sind es jetzt schon knapp 440 Tage, in denen in Belgien nur noch eine geschäftsführende Regierung im Amt ist. Da werden so langsam Erinnerungen an die Zeit 2010/11 wieder wach, als das Land sogar 541 Tage keine Regierung hatte. Das ist bis heute Weltrekord. Aber die belgische Politik scheint fest entschlossen, ihren eigenen Rekord noch einmal toppen zu wollen. Denn auch neun Monate nach der Parlamentswahl ist in Brüssel nach wie vor völlig unklar, wie eine föderale Regierungskoalition aussehen könnte. *In der vergangenen Woche hat der belgische König Philippe zwei neue Vermittler ernannt, nachdem in den Monaten zuvor in den Verhandlungen zwischen den Parteien viel Porzellan zerschlagen wurde. Die beiden Liberalen Sabine Laruelle, die Vorsitzende des Senats, und Patrick Dewael, der Kammerpräsident, sollen als höchste Vertreter der belgischen Legislative wohl neues Vertrauen aufbauen. Sie sind schon Vermittler Nummer 9 und Nummer 10, die vom König für die Kompromisssuche beauftragt wurden und die mal “Informatoren” oder auch “Vorregierungsbildner” genannt wurden. Sie alle – ob es der Vorsitzende der flämischen Christdemokraten, der Liberalen-Präsident oder der Chef der wallonischen Sozialisten war – sind an ihrer Aufgabe gescheitert. Vor dem Duo Laruelle/Dewael hatte der amtierende Justizminister Koen Geens versucht, eine Lösung zu finden. Doch Geens gab bereits nach zweieinhalb Wochen entnervt auf. *Das Problem bei der Regierungsbildung ist zum einen, dass es in Belgien keine landesweiten Parteien gibt, sondern nur regional aufgestellte. Die 150 Sitze im zersplitterten Abgeordnetenhaus werden deshalb auf nicht weniger als zwölf Parteien verteilt. Zum anderen haben die beiden großen Landesteile – der flämische Norden und der französischsprachige Süden – komplett gegensätzlich gewählt. In Flandern haben über 40 % für rechte Parteien gestimmt: für die nationalistische Neu-Flämische Allianz (N-VA) und den rechtsextremen Vlaams Belang (VB). In der Wallonie war dagegen die sozialistische PS stärkste Kraft, gefolgt von den Kommunisten. *Sollten die jeweils führenden politischen Kräfte der beiden großen belgischen Landesteile also angemessen auch in einer künftigen Föderalregierung repräsentiert sein, müsste es auf eine Koalition zwischen der N-VA und der PS hinauslaufen – also zwischen zwei Parteien, die so wirklich überhaupt nichts miteinander zu tun haben (wollen). Mehr als 30 Spitzentreffen hat es trotzdem gegeben, um eine solche sogenante “burgundische Koalition” doch noch auf den Weg zu bringen. Doch es kam, wie es kommen musste: PS-Chef Paul Magnette sprach von einer “Qual” und der N-VA-Vorsitzende Bart De Wever wurde nach einem der Treffen mit den Worten zitiert, er brauche jetzt erst einmal viel flämische Zahnpasta, um sich den schlechten Geschmack wieder aus dem Mund zu spülen. Der Kommentar der Zeitung “Het Laatste Nieuws” nach dem jüngsten Scheitern der Vermittlungsmission von Geens: Jetzt sei ein “Zauberer gesucht”. *Neuwahlen wollen zurzeit lediglich die flämischen Rechtsextremisten und die wallonischen Kommunisten, weil nur sie sich weitere Stimmengewinne erhoffen. Alle anderen Parteien lehnen Neuwahlen auch deshalb ab, weil ihre Kassen nach dem letzten Wahlkampf noch ziemlich leer sind. Und damit werden nun die Tage gezählt bis zum nächsten Rekord – was für den Staat eigentlich zur Unzeit kommt. Denn niemand kann gegenwärtig den nationalen Haushalt wieder in Ordnung bringen, der immer stärker in Schieflage gerät. Die derzeitige geschäftsführende Regierung hat hierfür keine Mehrheit.