Verwundbarkeit von Volkswirtschaften

Brüssels offene Flanke bei Sanktionen

Wissenschaftler haben untersucht, welcher Typus von Volkswirtschaften wie auf Sanktionen reagiert – und wo die Schwachstellen sind. Die EU sollte sich danach vor allem um den Finanzsektor kümmern und ihn härten.

Brüssels offene Flanke bei Sanktionen

Brüssels offene Flanke bei Sanktionen

Kieler Institut über die Wirkung von Repressalien auf Volkswirtschaften

lz Frankfurt

Die Sanktionen gegen Russland haben es gezeigt: Es ist gar nicht so einfach, ein so großes Land auf die Knie zu zwingen. Manche der Repressalien hatten zwar kurzfristig eine deutliche Wirkung, konnten aber nach und nach umgangen werden. Produkte wurden substituiert und neue Handelspartner gefunden, die Sanktionen umgehen oder als Mittelsmänner fungieren.

Das Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW) hat nun analysiert, weshalb manche Länder mehr, andere weniger verwundbar sind gegen Sanktionen. Zunächst wenig überraschend: Entwicklungsländer haben die geringste Abwehrkraft. Staaten mit einseitiger Exportstruktur sind besonders anfällig. Aber auch Länder mit großer Finanzbranche, wie in der EU, bieten viele offene Flanken, die ausgenutzt werden könnten. Dagegen müsse sich Brüssel wappnen, raten die Ökonomen.

Nur drastische Maßnahmen wirken

„Ausschlaggebend für die wirtschaftlichen Folgen von Sanktionen sind deren Intensität und die Wirtschaftsstruktur des Zielstaates“, sagt Moritz Schularick, Präsident des IfW Kiel und Co-Autor des Forschungspapiers. Die Auswertung globaler Daten seit 1920 verdeutliche, dass Handelsbeschränkungen im Durchschnitt nur moderate Schäden verursachen: Wird Handel im Umfang von 1% des Bruttoinlandsproduktes (BIP) sanktioniert, sinke das reale BIP im Schnitt über fünf Jahre allenfalls um 0,3 Prozentpunkte. „Erst Sanktionen im Umfang von 10% des BIP verursachen gravierende ökonomische Schäden“, erklärt Schularick. Das entspreche etwa einem Drittel des Außenhandelsvolumens eines Industrielandes. Heißt: Nur drastische Maßnahmen führen zu spürbaren wirtschaftlichen Kosten.

Staaten mit einseitigen Handelsstrukturen leiden allerdings auch schon bei leichteren Strafmaßnahmen und sind damit deutlich verwundbarer als hoch diversifizierte Industrienationen. Das gilt besonders für Inselstaaten mit hoher Importabhängigkeit und einkommensschwache Volkswirtschaften. Eine Sanktion im Umfang von 1% des BIP kann diese Länder bis zu 5 Prozentpunkte an BIP kosten – ein Vielfaches des durchschnittlichen Effekts.

Eine interessante Ausnahme bilden die großen Volkswirtschaften Kanada und Mexiko: Sie sind besonders anfällig gegenüber wirtschaftlichen Repressalien wie die von US-Präsident Donald Trump verhängten Importzölle, weil ihre Ausfuhren stark auf die USA konzentriert sind, heißt es in der Studie.

Länder mit hohem Rohstoffanteil an den Exporten reagieren allerdings besonders empfindlich: Ein um 10 Prozentpunkte höherer Rohstoffanteil verstärkt den möglichen BIP-Verlust um das Drei- bis Vierfache. Das trifft besonders auch auf Russland zu. „Wenn die Ausfuhrverbote für Öl und Gas konsequent durchgesetzt würden, wären die Sanktionen viel effektiver. Die westlichen Alliierten bleiben also unter ihren Möglichkeiten, wirtschaftlichen Druck auf Russland auszuüben“, betont Schularick.

Erst dieser Tage wollte Brüssel neue, besonders wirksame Sanktionen gegen Russland beschließen, die genau an diesem Mechanismus ansetzen: Ölpreis und Finanztransaktionen. Doch am Widerstand der Slowakei sowie Malta ist das bislang gescheitert.

Aber auch die EU-Staaten haben strategische Schwächen und können leicht angegriffen werden, warnen die Ökonomen und verweisen auf den Finanzsektor als „offene Flanke“. Das wirke mitunter noch schärfer als andere Mechanismen. Das Einfrieren von Vermögenswerten oder der SWIFT-Ausschluss könnten BIP-Verluste bis zu 10 Prozentpunkten verursachen. Nachdem etwa iranische Finanzakteure 2012 mit US-Sanktionen belegt wurden, sei das Wirtschaftswachstum in drei Jahren um rund 20% geschrumpft.

Finanzsanktionen entfalten ihre Wirkung vor allem bei Ländern, die stark in den globalen Kapitalverkehr eingebunden sind. Dazu gehören Finanzzentren wie Singapur, die Schweiz und das Vereinigte Königreich, aber eben auch mehrere EU-Länder mit starker Finanzindustrie wie Luxemburg, Irland, die Niederlande und Belgien, schreiben die Wissenschaftler. Ihre hohe Abhängigkeit von internationalen Zahlungsströmen offenbart eine strategische Schwäche der EU: Die starke Anbindung an US-geführte Finanzinfrastrukturen stellt ein nicht zu unterschätzendes Risiko dar, so die Autoren.

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