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Chefdompteur in der EU-Verhandlungsarena

Von Andreas Heitker, Brüssel Börsen-Zeitung, 27.10.2020 Für Michael Clauß könnte der Tag aktuell gerne mehr als 24 Stunden haben. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft befindet sich in ihrer vielleicht wichtigsten Phase. Viele der Verhandlungen rund...

Chefdompteur in der EU-Verhandlungsarena

Von Andreas Heitker, BrüsselFür Michael Clauß könnte der Tag aktuell gerne mehr als 24 Stunden haben. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft befindet sich in ihrer vielleicht wichtigsten Phase. Viele der Verhandlungen rund um das 1,8 Bill. Euro schwere Finanzpaket, das rechtzeitig bis Jahresende in trockene Tücher gebracht werden soll, stehen Spitz auf Knopf. Und für Clauß, seit zwei Jahren deutscher EU-Botschafter in Brüssel und als solcher der Verhandlungsführer der EU-Staaten, bedeutet dies eine hohe Taktzahl: Mit dem Europaparlament müssen Deals zum mehrjährigen Haushaltsrahmen, zum Wiederaufbaufonds, zur Einführung eines Rechtsstaatsmechanismus und zum Etat 2021 gefunden werden. Dazu kommen die ständigen Rücksprachen mit seinen Botschafterkollegen aus den anderen 26 Staaten, die auch irgendwie unter einem Hut gehalten werden müssen, und natürlich die Koordinierung mit Berlin. Dass Clauß seine Wochenenden längst gestrichen hat, ist daher klar. Der einzige “Luxus”, den sich der vierfache Familienvater aktuell noch gönnt, sind zwischendurch ein paar Joggingläufe, um den Kopf einmal wieder frei zu bekommen, wie es aus seinem Umfeld heißt.Der gebürtige Hannoveraner profitiert in dieser Situation davon, dass er in seiner schon mehr als 30 Jahre dauernden diplomatischen Karriere ein gutes Gefühl dafür entwickelt hat, was in politischen Verhandlungen machbar ist, was mögliche “Landezonen” eines Kompromisses sind. Zudem hat er auch bei der letzten deutschen Ratspräsidentschaft 2007 schon mitgemischt – als Koordinator im Auswärtigen Amt.2013 ist er dann für fünf Jahre nach China gegangen als außerordentlicher und bevollmächtigter deutscher Botschafter. Bei seiner Rückkehr stellte der heute 59-Jährige noch leicht belustigt fest, dass Europa ja zum Teil immer noch über die gleichen Themen mit den gleichen roten Linien diskutiere wie vor seiner Peking-Zeit. Die Pandemie und ihre Herausforderungen haben aber viele der alten Denkmuster aufgebrochen und machen daher auch den jetzigen Verhandlungsmarathon recht einzigartig.Clauß war von Anfang an der feste Wille anzumerken, rechtzeitig einen Kompromiss zum großen Finanzpaket zu schmieden, auf das viele Länder so dringend angewiesen sind. Er trieb das EU-Parlament zur Eile an, ging zugleich aber auch mit pragmatischen Vorschlägen auf die Abgeordneten zu. Dass sein Verhandlungsspielraum allerdings begrenzt ist und Clauß nicht gewillt ist, das auf dem viertägigen EU-Gipfel im Juli vereinbarte ausbalancierte Paket noch einmal grundsätzlich wieder aufzuschnüren, wurde ebenfalls schnell deutlich. Das EU-Parlament hat der deutschen Ratspräsidentschaft daher in den letzten Wochen wiederholt fehlende Kompromissbereitschaft vorgeworfen.Der parteilose Botschafter weiß, dass der Erfolg der deutschen EU-Ratspräsidentschaft von seinem Verhandlungsergebnis abhängt. Umso ärgerlicher ist, dass er gestern weitere Einschränkungen bei den physischen Sitzungen verkünden musste – die Coronasituation in Brüssel ist einfach zu heftig. Die eigentlichen Verhandlungen über den EU-Haushaltsrahmen und den Wiederaufbaufonds sollen davon möglichst wenig betroffen sein. Denn auch Clauß hält es für praktisch ausgeschlossen, ohne persönliche Treffen und Kontakte hier eine Einigung finden zu können.