Im Interview:Olli Rehn

„Das ist eine sehr besorgniserregende Situation“

EZB-Rat Olli Rehn warnt vor Selbstzufriedenheit bei der Inflation, es gebe mehrere Abwärtsrisiken. Nicht zuletzt wegen der politischen Entwicklungen in den USA. Eine nicht mehr unabhängige Fed könnte zu Turbulenzen an den Finanzmärkten führen.

„Das ist eine sehr besorgniserregende Situation“

Im Interview: Olli Rehn

„Das ist eine sehr besorgniserregende Situation“

EZB-Rat warnt vor Turbulenzen an den Finanzmärkten, falls die Fed ihre Unabhängigkeit verliert – Mehrere Abwärtsrisiken für die Euro-Inflation

Eine politisch abhängige Fed könnte zu Turbulenzen an den Finanzmärkten und in der Weltwirtschaft führen, warnt EZB-Rat Olli Rehn. Er mahnt die EZB zudem vor Selbstzufriedenheit beim Mandat der Preisstabilität. Es gebe mehrere Abwärtsrisiken für die Inflation. Nicht zuletzt wegen der Entwicklungen in den USA.

Herr Rehn, Sie waren kürzlich auf der Notenbankerkonferenz in Jackson Hole, Wyoming. Wie besorgt sind Sie, dass die Fed tatsächlich ihre politische Unabhängigkeit verlieren könnte?

Meiner Einschätzung nach ist die Trump-Regierung sehr ernsthaft bemüht, den Kurs der Federal Reserve zu ändern. Das ist eine sehr besorgniserregende Situation, da dies Auswirkungen auf den Rest der Welt hätte. Eine politisch abhängige Fed würde zu mehr Inflation in den Vereinigten Staaten und zu Turbulenzen in der Weltwirtschaft und den Finanzmärkten führen. Ich hoffe wirklich, dass dies nicht passieren wird. Wir haben bereits genug Turbulenzen aufgrund geopolitischer Spannungen wie dem Krieg Russlands in der Ukraine und Handelsspannungen.

Wie realistisch ist es, dass der Euro aufgrund der politischen Entwicklungen in den USA langfristig zur Weltreservewährung werden könnte?

Ich sehe darin eine große Chance für die Eurozone, die internationale Rolle des Euro zu stärken. Die politischen Entwicklungen in den USA schwächen das Vertrauen der Anleger in den Dollar. Ich möchte keinen Zusammenbruch des Dollars erleben. Das wäre schlecht für die Weltwirtschaft. Aber ich hätte nichts dagegen, einige der außergewöhnlichen Privilegien zu teilen, die mit einer globalen Reservewährung einhergehen, zum Beispiel niedrigere Kapitalkosten.

Die Finanzmärkte spekulieren darüber, ob die EZB die Zinsen in diesem Jahr noch einmal senken wird. Könnte der im Vergleich zum Dollar stärkere Euro ein Argument für eine Zinssenkung in diesem Jahr sein, da es möglich ist, dass sich die Aufwertung fortsetzt?

Der Wechselkurs ist kein Ziel der EZB, aber er ist ein Faktor, der in unsere umfassende Bewertung der Geldpolitik mit einfließt. Wir beobachten die Entwicklungen, aber sie sind nicht der alles entscheidende Faktor.

Was müssen Sie in den ökonomischen Daten oder den EZB-Projektionen sehen, damit Sie für eine weitere Zinssenkung in diesem Jahr sind?

Da wir derzeit keine Forward Guidance geben, möchte ich mich jeglicher Spekulationen über künftige Sitzungen enthalten. Derzeit herrscht große Unsicherheit. Dies unterstreicht die Bedeutung der Datenabhängigkeit und der umfassenden Bewertung der eingehenden Daten. Die europäische Wirtschaft hat sich widerstandsfähiger gezeigt als zu Beginn dieses Jahres erwartet. Andererseits belasten geopolitische Spannungen und Handelsunsicherheiten die europäische Wirtschaft und beeinträchtigen das Wachstum. Was die Inflationsaussichten angeht, befinden wir uns derzeit in einer guten Lage. Die Inflation hat sich um unser mittelfristiges Ziel stabilisiert. Das sind gute Nachrichten, aber es gibt keinen Grund zu übermäßiger Zufriedenheit. Es gibt mehrere Abwärtsrisiken für die Inflation, darunter billigere Energie, ein stärkerer Euro und Zölle, die das Wachstum dämpfen. Wir müssen uns dieser Abwärtsrisiken bewusst sein.

Die Europäische Union hat ein Handelsabkommen mit den USA geschlossen, auch wenn noch einige Dinge unklar sind. Rechnen Sie daher damit, dass die hohe Unsicherheit für Unternehmen und Verbraucher abnehmen wird?

Das sogenannte Handelsabkommen war schlechter als erwartet. Ein weiterer Aspekt ist, dass es keine Vergeltungsmaßnahmen seitens der EU gibt. Die inflationären Auswirkungen für die Eurozone sind unerheblich. Die negative Hauptwirkung für Europa betrifft das Wachstum. Eine geringere wirtschaftliche Aktivität wird die Inflation im Euroraum senken. Man kann sagen, dass das sogenannte Abkommen kurzfristig die Unsicherheit etwas verringert. Aber noch wichtiger ist, dass wir davon ausgehen müssen, dass die politische Unsicherheit noch für geraume Zeit hoch bleiben wird. Die neue US-Politik ist weniger konsistent und vorhersehbar als die vorherige.

Es gab Befürchtungen, dass die Handelsspannungen zu einer Rezession in der Eurozone führen könnten, wenn die EU keine Einigung mit der US-Regierung erzielt. Ist eine Rezession nun vom Tisch?

Eine Rezession ist nicht unser zentrales Szenario. Die Industrieproduktion hat sich gegenüber den Zöllen widerstandsfähiger gezeigt als erwartet. Dennoch hätte ich mir einen strategischeren Ansatz der EU in den Verhandlungen gewünscht.

Was meinen Sie genau damit?

Ein strategischerer Ansatz und eine einheitliche Front zu Beginn der Verhandlungen hätten der EU eine bessere Position verschafft. Die Europäische Union war auch nicht so gut vorbereitet, wie es möglich gewesen wäre. Wie auch immer, wir müssen nun mit dem Abkommen leben, so wie es ist.

Nächste Woche veröffentlicht die EZB neue Projektionen. Wie wichtig sind diese für Ihre Einschätzung der Geldpolitik?

Sie sind immer wichtig, auch dieses Mal. Ich habe Ihnen bereits beschrieben, wie ich das wirtschaftliche Umfeld in naher Zukunft sehe. Aber das könnte sich in gewissem Maße ändern, nachdem wir die neuen Projektionen und die ihnen zugrunde liegenden Analysen erhalten habe.

Sind Sie optimistisch, dass das Wachstum der Eurozone im nächsten Jahr wie prognostiziert anziehen wird? Die Verbraucherstimmung ist nach wie vor schwach.

Die Zölle sind höher als im Basisszenario vom Juni. Ich rechne daher mit weiteren Wachstumsrückgängen. Vieles wird davon abhängen, wie sich die geopolitischen und handelspolitischen Spannungen entwickeln. Und tatsächlich ist es ein großer Nachteil, dass das Verbrauchervertrauen in einigen Teilen der Eurozone, wie beispielsweise in Finnland oder Deutschland, schwach ist. Die Sparquote ist trotz des Anstiegs der Reallöhne hoch. Sie ist nicht wie erwartet gesunken.

Sie sagten, dass es mehrere Abwärtsrisiken für die Inflation gibt, wie beispielsweise die Handelsspannungen. Aber könnte der Trend zur Deglobalisierung mittel- bis langfristig auch zu mehr Inflation führen, da neue Handelsketten möglicherweise weniger effektiv sind?

Das müssen wir in der Tat genau beobachten. Bislang haben wir jedoch keine größeren Auswirkungen der Fragmentierung der Weltwirtschaft auf die Inflation gesehen.

Das zweite große Thema für die EZB neben der Preisstabilität ist der digitale Euro. Warum brauchen wir ihn Ihrer Meinung nach?

Unsere Schwäche besteht darin, dass wir kein europaweites Zahlungssystem im Retail-Bereich haben. Wir sind übermäßig abhängig von vor allem zwei amerikanischen Unternehmen, Visa und Mastercard. Deshalb sollten sich der private und der öffentliche Sektor darauf konzentrieren, die Schaffung eines wirklich funktionierenden europäischen Zahlungssystems zu beschleunigen. Aus diesem Grund arbeitet die EZB daran, den digitalen Euro zum Rückgrat dieses Systems zu machen.

Es gibt Gerüchte, dass die EZB für den digitalen Euro eine öffentliche Blockchain wie die für Ethereum genutzte verwenden könnte. Das könnte die Einführung eines digitalen Euro beschleunigen. Ist das für Sie eine Option?

Ich ziehe es vor, dies intern zu besprechen und mich nicht zu Dingen zu äußern, die völlig verfrüht sind.

Wie viel Zeit wird die EZB noch benötigen, um einen digitalen Euro einzuführen?

Die Einführung muss gründlich, vertrauenswürdig und zuverlässig erfolgen. Es ist besser, sie so gut wie möglich durchzuführen, anstatt sie zu überstürzen. Das wird also einige Jahre dauern. Übrigens fehlt es uns noch an einer rechtlichen Grundlage für den digitalen Euro durch die EU. Wir ermutigen das Europäische Parlament, den Prozess zu beschleunigen.

Der digitale Euro kann nur dann erfolgreich sein, wenn die Menschen einen Nutzen in seiner Verwendung sehen. Wie sehen diese Vorteile aus?

Es gibt mindestens zwei wesentliche Vorteile. Verbraucher und Unternehmer zahlen beispielsweise recht hohe Gebühren für die Nutzung von Kreditkarten. Der digitale Euro wäre ein kosteneffizientes öffentliches Gut, das für die Bürger Europas kostenlos wäre. Zweitens müssen wir unsere Cyber-Resilienz verbessern. Der digitale Euro wäre ein wichtiger Bestandteil einer resilienten Zahlungsinfrastruktur.

Das Interview führte Martin Pirkl.

Das Interview führte Martin Pirkl.