Jörg Krämer

Das Vertrauen in die EZB erodiert

Die Entwicklung der Inflationserwartungen ist auf gefährlichem Kurs. Wie früher bekommt das Lager der Skeptiker immer mehr Zulauf. Die heile Welt von gestern, als alle Akteure an eine fortgesetzt niedrige Inflation glaubten, ist vorbei.

Das Vertrauen in die EZB erodiert

Lange Zeit haben die Bürger dem Versprechen der Europäischen Zentralbank (EZB) geglaubt, die Inflation langfristig auf 2% zu begrenzen. Diese Verankerung der Inflationserwartungen hat der EZB ihre Arbeit enorm erleichtert. Solange die Menschen an eine fortgesetzt niedrige Inflation glaubten, hielten sich die Gewerkschaften bei Lohnverhandlungen zurück und die Unternehmen trauten sich nicht, ihre Preise stärker anzuheben. Selbst wenn die Inflation einmal kurzfristig über 2% stieg, kehrte sie wieder rasch zu dieser Marke zurück – idealerweise ohne dass die EZB etwas tun musste.

Aber diese heile Welt gibt es nicht mehr. Das zeigt eine Umfrage der EZB. Sie lässt die Bürger im Euroraum einmal im Monat danach befragen, mit welcher Inflationsrate sie in drei Jahren rechnen. Während die Bürger bis Anfang dieses Jahres laut Median eine Inflationsrate von 2% erwarteten, sind es mittlerweile 3%. Eine Hälfte der Befragten rechnet also mit einer Inflationsrate unter 3%, die andere Hälfte mit einer Inflationsrate darüber.

Deutlich über dem Median liegt der Mittelwert, der mittlerweile 4,7% beträgt. Mittelwert und Median begannen bereits Anfang 2021 auseinanderzulaufen – ein Jahr vor dem Anstieg des Medians. Das geht vor allem darauf zurück, dass die Befragten in der rechten Hälfte der Inflationsverteilung früher als die anderen Befragten mit deutlich mehr Inflation rechneten. Die Inflationsskeptiker haben ihre Inflationserwartungen als Erste angehoben und später, ab Anfang 2022, immer mehr Inflationsoptimisten in ihr Lager herübergezogen.

Diese Entwicklung der Inflationserwartungen ist gefährlich. Ricardo Reis von der London School of Economics hat schon vor Jahren gezeigt, dass Ähnliches in den 1960er Jahren zu beobachten war und ein Vorspiel für die hohe Inflation der 70er Jahre war. Obwohl die US-Inflation bereits Mitte der 60er Jahre und damit lange vor dem Ölpreisschock von 1973 die Marke von 2% überschritt, blieben die meisten US-Konsumenten noch lange entspannt. Offenbar glaubten sie der US-Notenbank, die auf Sonderfaktoren verwies und den Anstieg der Inflation als vorübergehend betrachtete. Aber bereits 1967 bekam das ursprünglich kleine Lager der Inflationsskeptiker Zulauf.

In Gang gesetzt wurde dieser Wechsel in der Wahrnehmung der Inflationsrisiken durch eine kleine Gruppe offenbar wacher Menschen, die das Gras wachsen hörten. Sie hatten früher als die Mehrheit erkannt, dass die US-Regierung immer mehr für den Vietnam-Krieg und für ge­sellschaftspolitische Reformprojekte ausgab, was die Notenbank bereitwillig mit einer lockeren Geldpolitik begleitete. Der Zulauf für das Lager der Inflationsskeptiker war ein Frühindikator für den allgemeinen Anstieg der Inflationserwartungen, der es der Notenbank in den 70er Jahren so schwer machte, die Inflation wieder zu senken.

Gut informierte Minderheit

Ähnliches spielt sich offenbar gegenwärtig wieder ab. Laut EZB-Direktionsmitglied Isabel Schnabel sind es vor allem Menschen mit mehr Finanzwissen und mit Einfluss auf Preisentscheidungen, die ihre Inflationserwartungen stärker nach oben revidieren als andere. Sie hatten wohl schon seit langem ein ungutes Gefühl, weil die EZB in großem Stil Staatsanleihen kauft und auf die finanziellen Bedürfnisse der hoch verschuldeten Länder vor allem im Süden der Währungsunion schielt. Diese Menschen sehen sich durch den starken Anstieg der Inflation in ihrer Skepsis bestätigt – zumal die EZB die Inflationsgefahren lange kleingeredet hat und erst sehr spät mit Zinserhöhungen reagiert hat.

Dieser von einer gut informierten Minderheit getriebene Anstieg der allgemeinen Inflationserwartungen kann zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden. Rechnen die Bürger auch langfristig mit einer hohen Inflation, werden die Gewerkschaften hohe Lohnsteigerungen fordern und zum Teil durchsetzen. So forderten die Gewerkschaften jüngst für den öffentlichen Dienst in Deutschland ein Lohnplus von 10,5%. Hinzu kommt, dass Unternehmen leichter höhere Preise durchsetzen können, wenn die Menschen ohnehin mit einer hohen Inflation rechnen.

Je mehr eine anziehende Inflation mit steigenden langfristigen Inflationserwartungen einhergeht, desto entschiedener muss die EZB handeln. Es reicht nicht aus, den Einlagensatz auf rund 2% anzuheben, was viele EZB-Ratsmitglieder als neutrales Niveau betrachten. Zum einen dürfte der neutrale Zins mit Blick auf die langfristigen realen Wachstumsaussichten des Euroraums (knapp 1%) und das Inflationsziel von 2% bei knapp 3% liegen. Zum anderen sollte die EZB wegen der gestiegenen langfristigen Inflationserwartungen deutlich über das neutrale Niveau hinausgehen. In diesem Sinne wäre die zügige Anhebung des EZB-Einlagensatzes in Richtung 4% alles andere als aggressiv. Mit einem weiteren großen Zinsschritt um 0,75 Prozentpunkte auf der heutigen Ratssitzung wird es nicht getan sein.

Dr. Jörg Krämer, Chefvolkswirt Commerzbank AG.In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft.