NOTIERT IN LONDON

Der ungeliebte Karneval

Die ausgebrannte Ruine des Grenfell Tower ist in den vergangenen Wochen häufiger als Kulisse für politisches Schmierentheater genutzt worden. Der für London zuständige konservative Staatssekretär Greg Hands will die Brandkatastrophe nun dazu...

Der ungeliebte Karneval

Die ausgebrannte Ruine des Grenfell Tower ist in den vergangenen Wochen häufiger als Kulisse für politisches Schmierentheater genutzt worden. Der für London zuständige konservative Staatssekretär Greg Hands will die Brandkatastrophe nun dazu hernehmen, den Notting Hill Carnival an einen anderen Ort zu verlegen. Es handelt sich um einen karibischen Straßenkarneval mit farbenfrohen Paraden, Musik, Tanz und vielen anderen Attraktionen. Seit mehr als einem halben Jahrhundert findet das Straßenfest – weltweit eines der größten – wenige Minuten zu Fuß von den Wohnblocks entfernt statt, zu denen auch der Grenfell Tower gehört. Es geht auf die Kultur und Tradition der afrokaribischen Einwanderer zurück, die es sich in den 1950er und 1960er Jahren noch leisten konnten, in Notting Hill und North Kensington zu wohnen. Hands schrieb dem Londoner Bürgermeister Sadiq Khan, er möge doch bitte prüfen, ob es angesichts “der tragischen Ereignisse in der Gegend” nicht angebracht wäre, den 51. Karneval räumlich zu verlagern.Es ist nicht der erste Versuch, das Straßenfest aus dem Londoner Westen zu verbannen und in einen beherrschbaren Rahmen zu zwängen – etwa in den Hyde Park. Hätte sich die Verwaltung der königlichen Parks dafür erwärmen können, wäre es wohl längst dazu gekommen. Victoria Borwick, die konservative Abgeordnete für Kensington, hatte es ebenso versucht wie die Metropolitan Police. Die Politikerin und die Ordnungshüter verwiesen dabei auf die wachsende Zahl von Straftaten, die im Umfeld der Veranstaltung begangen wurden. Im vergangenen Jahr nahm sie 454 Teilnehmer fest, 43 Polizisten wurden verletzt, acht davon schwer. 15 Menschen kamen bei Messerstechereien zu Schaden. Auch das wachsende Gedränge in den Straßen macht der Polizei Sorgen. In Deutschland wird man sich an das Unglück bei der Duisburger Love Parade erinnern. Mit Blick auf die jüngsten Terroranschläge dürfte die Angst vor einer Massenpanik noch gewachsen sein.Notting Hill hatte auch David Cameron und Michael Gove unter seinen Bewohnern. Die hatten nichts gegen ein bisschen Globalkolorit. Aber wenn sich anderthalb Millionen Menschen durch die Straßen in der Nachbarschaft schieben und tiefe Bässe die Mauern beben lassen, schmeckt wohlhabenden Neubürgern des einstigen Armenviertels die Kurkuma-Vanille-Latte einfach nicht mehr.Khan weigerte sich, Hands Ansinnen nachzugeben. Er warnte ihn vielmehr davor, die “community relations” zu beschädigen. 1976 kam es auf dem Karneval zu Straßenschlachten, die sich schnell über das ganze Viertel ausbreiteten, als sich schwarze Jugendliche von der enormen Präsenz der weißen Polizei bedrängt fühlten und sich gegen – aus ihrer Sicht willkürliche – Festnahmen zur Wehr setzten. Damals wurden mehr als 300 Menschen verletzt und 35 Polizeifahrzeuge beschädigt. Zu dieser Zeit waren willkürliche Durchsuchungen schwarzer Jugendlicher an der Tagesordnung. Sie standen wegen ihrer Hautfarbe unter Generalverdacht, wurden auf Verdacht festgenommen und zusammengeschlagen. Seitdem hat sich in Großbritannien viel geändert. Aber man sieht immer noch nicht viele schwarze Gesichter in einer Polizeiuniform. Der Verdacht liegt nahe, dass man in einer Zeit, in der immer noch nicht feststeht, wie viele Menschen durch die Entscheidung der Verwaltung für billigere Baumaterialien im sozialen Wohnungsbau zu Tode kamen, in Westminster Angst vor allzu großen Versammlungen von Leuten hat, denen klar ist, dass es ebenso gut sie hätte treffen können. Die Wut ist groß. Hinzu kommt, dass die Preise für Güter des täglichen Bedarfs steigen, die staatlichen Transferleistungen auf Initiative des damaligen Schatzkanzlers George Osborne aber nicht mehr an die Teuerungsrate angeglichen werden. Der Chief Constable der West Midlands Police warnte bereits, die Sicherheitskräfte könnten im Falle einer Wiederholung der Unruhen von 2011 ernsthafte Probleme bekommen. Es gehört zu den Eigenheiten des britischen Lebens, dass sich der Ärger über die in der Regel unüberwindlichen Klassengrenzen, soziale Ungerechtigkeit und alltäglichen Rassismus alle paar Jahre in wüsten Straßenkämpfen entlädt. Es könnte trotz des derzeit kühleren Wetters bald wieder so weit sein.