Der verblüffende Anstieg der russischen Goldreserven
Der verblüffende Anstieg der russischen Goldreserven
Neue Rekorde auch bei den Währungsreserven − Ausgleich der rückläufigen Einnahmen aus dem Öl- und Gasexport
Im vierten Kriegsjahr bremst die russische Wirtschaft ab. Und auch die Einnahmen aus dem Ölexport sinken. Aber bei den Währungs- und vor allem bei den Goldreserven werden neue Rekorde verbucht. Wie das? Und was haben Putin und seine Kriegsmaschinerie davon?
Von Eduard Steiner, Moskau
Das vierte Jahr seit Ausbruch des Ukrainekriegs 2022 lässt sich für die russische Wirtschaft gar nicht gut an. Sie wuchs im ersten Quartal nur noch um 1,4% zum Vergleichszeitraum 2023 und sank zum ersten Mal seit 2022 im Quartalsvergleich. Die Industrieproduktion wuchs nur um 1%, wobei sie außerhalb des Rüstungssektors sogar rückläufig war. Und obwohl die Zentralbank den exorbitant hohen Leitzins von 21% am vergangenen Freitag zu senken begann, erwartet sie weiter, dass von den landesweit größten 78 Konzernen außerhalb des Finanzsektors dieses Jahr ein gutes Dutzend pleitegehen könnte. In der revidierten Budgetprognose wird mit einer Verdreifachung des Defizits auf 1,7% des BIP gerechnet. Denn während die Ausgaben – vor allem für den Krieg – weiter steigen, wird ein ölpreisbedingter Rückgang der wichtigen Einnahmen aus dem Öl- und Gasexport um 24% auf 8,3 Bill. Rubel (92 Mrd. Euro) prophezeit.
Dennoch stiegen die internationalen Gold- und Währungsreserven zuletzt deutlich und haben dabei mehrere Rekorde geknackt. Laut russischer Zentralbank beliefen sie sich Anfang Juni auf 680,4 Mrd. Dollar. Zu Jahresbeginn waren es noch 609 Mrd. Dollar, zur Zeit der Annexion der Krim im Jahr 2014 unter 500 Mrd. Dollar, in den Folgejahren unter 400 Mrd. Dollar. Im Unterschied zu früher sind zwar seit Kriegsbeginn etwa 300 Mrd. Dollar der Gesamtreserven in der EU eingefroren, sodass Russland von den jetzigen 680 Mrd. Dollar nur über 380 Mrd. Dollar verfügen kann. Aber der Zuwachs um 71 Mrd. Dollar seit Jahresbeginn ist allemal bemerkenswert.
Stattliche Goldreserven
Zum Teil entsteht er wohl aus der Erstarkung des Euro gegenüber dem Dollar, schließlich würde ein Teil der Gesamtreserven ja noch immer in Euro gehalten, erklärt Vasily Astrov, Russland-Experte des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW), auf Anfrage. 51 Mrd. Dollar des Zuwachses aber sind der Entwicklung des Goldpreises geschuldet, der seit Jahresbeginn um über ein Viertel (und auf Ein-Jahres-Sicht um über 40%) gestiegen ist. So beläuft sich der Wert der staatlichen russischen Goldreserven auf 248,2 Mrd. Dollar – so viel wie noch nie. Zudem hat Russland im Laufe der Jahre und mit zunehmender Entfremdung vom Westen US-amerikanische Staatsanleihen verkauft und dafür Gold zugekauft. So stieg der Goldanteil an Russlands internationalen Reserven von 22,9% vor fünf Jahren auf nun 36,5%
Der Wertzuwachs sei nicht zu unterschätzen, sagt Vladislav Inozemcev, russischer Ökonom und Mitbegründer des Zentrums für Analysen und Strategien in Europa (CASE), zur Börsen-Zeitung: „Der Wertzuwachs seit Mitte 2024 macht die ölpreisbedingt rückläufigen Einnahmen aus dem Öl- und Gasexport mehr als wett. Daher sind auch Russlands schlechtere Handelsbedingungen weniger dramatisch als oft angenommen.“
Russland zapft nationalen Wohlfahrtsfonds an
Doch was bringen Russland die auf Rekordhöhen getriebenen Währungsreserven wirklich? Prinzipiell könnten die Verluste einen etwaigen Einbruch beim Außenhandel kompensieren, sagt Vjugin. Eine potenzielle Finanzierung des Budgetdefizits aus den Reserven der Zentralbank würde Ökonom Astrov „momentan völlig ausschließen. Weder ist sie derzeit notwendig, noch wäre sie im Einklang mit den nach wie vor weitgehend liberalen Prinzipien der makroökonomischen Steuerung in Russland.“ Zur Finanzierung des Budgetdefizits hat Russland andere Möglichkeiten. Und zwar die − freilich nur schwer zu bewerkstelligende − Abwertung des Rubels oder die Ausweitung der niedrigen Staatsschulden. Vor allem aber hat der Staat den sogenannten Nationalen Wohlfahrtsfonds (NWF), der vor dem Krieg aus überschüssigen Ölexporteinnahmen angespart worden ist. Sein liquider und damit leicht zugänglicher Teil wird seit Kriegsbeginn fürs Budget hergenommen und schrumpft rapide. 2025 oder 2026 könnte er aufgebraucht sein. Sollten die Budgetlöcher wirklich beunruhigend werden, würde Russland wohl auch die Goldreserven anzapfen, so Inozemcev.
Das Problem dabei: Die EU und die USA haben Mitte 2022 den Import und Handel mit Gold aus Russland verboten. Dabei hat Russland nicht nur riesige Mengen Gold in seinen Staatsreserven, es produziert auch jede Menge. Mit 310 Tonnen war es 2024 der weltweit zweitgrößte Produzent nach China und vor Australien. Gold war vor dem Krieg Russlands drittwichtigstes Exportgut hinter Energieträgern. In einem gewissen Ausmaß macht Russland sein Edelmetall trotz Sanktionen zu Geld. „Natürlich verkauft Russland sein Gold, denn viele Länder sind sich der Sanktionen nicht so bewusst“, sagt Inozemcev.
Schmuggel über Armenien
Als Hauptdestinationen für diesen Handel würden die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), die Türkei und das südkaukasische Armenien gelten. Wie das russische Investigativmedium „The Insider“ und sein armenisches Pendant „Hetq“ Ende 2024 auf der Grundlage von Zolldaten zutage gebracht haben, hat das kleine Armenien von 2022 bis 2024 ganze 89 Tonnen Gold im Wert von 5,2 Mrd. Dollar aus Russland bezogen – um es rasch in die VAE, aber auch nach Hongkong und Festlandchina weiterzuverkaufen. „Armenien hat sich in den ersten Kriegsjahren zum wichtigen Schmuggelkorridor entwickelt“, so Inozemcev. Sollten freilich die russischen Budgetprobleme so groß werden, dass man auf einen umfassenden Goldverkauf angewiesen wäre, dann würden diese Korridore nicht reichen.