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Der Weg an die WTO-Spitze führt über Afrika

Von Stefan Reccius, Frankfurt Börsen-Zeitung, 9.7.2020 Die Zeit drängt. Ende August wird der Brasilianer Roberto Azevedo auf eigenen Wunsch den Chefposten der Welthandelsorganisation (WTO) räumen, ein Jahr vor Ablauf seiner zweiten Amtszeit. Seit...

Der Weg an die WTO-Spitze führt über Afrika

Von Stefan Reccius, FrankfurtDie Zeit drängt. Ende August wird der Brasilianer Roberto Azevedo auf eigenen Wunsch den Chefposten der Welthandelsorganisation (WTO) räumen, ein Jahr vor Ablauf seiner zweiten Amtszeit. Seit gestern Abend stehen die Kandidaten für die Nachfolge Azevedos fest. Dass sich die 164 Mitgliedstaaten der WTO rechtzeitig auf einen neuen Chef verständigen, gilt am Hauptsitz der Institution in Genf allerdings als ausgeschlossen.Das liegt nicht etwa daran, dass es an fähigen Bewerbern mangelt. Vielmehr sorgen die politische Großwetterlage und das eigentümliche Prozedere dafür, dass das Rennen um die WTO-Spitze so offen wie zäh werden dürfte. Die US-Regierung zielt mit der Blockade des WTO-Schiedsgerichts und Rückzugsdrohungen auf die Demontage der internationalen Handelsordnung und ihrer wichtigsten Institution. Für die Besetzung des Chefpostens ist aber Konsens gefragt. Während die Weltbank traditionell von einem Amerikaner geführt wird und der Spitzenjob beim Internationalen Währungsfonds (IWF) seit jeher Europa vorbehalten ist, gibt es für die WTO-Führung keine derartigen Konventionen.Nicht wenige setzen in dieser Gemengelage darauf, dass es 25 Jahre nach Gründung der WTO zu einer doppelten Premiere kommt: Keiner der bislang sechs Generaldirektoren kam aus Afrika – und nie stand eine Frau an der Spitze. Nun haben sich zwei aussichtsreiche Kandidatinnen beworben: Die Nigerianerin Ngozi Okonjo-Iweala gilt als international respektierte Diplomatin. Für ihr Heimatland verhandelte die frühere Finanzministerin einen milliardenschweren Schuldenschnitt. Die Harvard-Absolventin machte Karriere bei der Weltbank und stieg bis zur Vizepräsidentin auf. Inzwischen sitzt Okonjo-Iweala im Board von Twitter.Als chancenreich gilt auch die Kenianerin Amina Mohamed. Die studierte Juristin hat sich als kenianische Außenministerin 2015 mit der Vorbereitung der WTO-Ministerkonferenz in Nairobi Meriten erworben. Die zwölfte Auflage des wichtigsten Beschlussgremiums der Institution ist wegen der Corona-Pandemie um ein Jahr auf Juni 2021 in Kasachstan verschoben worden. Dort wird es auch um zentrale Reformvorhaben gehen wie den künftigen Umgang mit staatlichen Subventionen – bislang ein blinder Fleck in der internationalen Handelsordnung.Das Feld der afrikanischen Bewerber komplettiert der Ägypter Abdel-Hamid Mamdouh. Der Anwalt und frühere WTO-Abteilungsleiter ist Fachmann für Handelsrecht, gilt politisch allerdings als Leichtgewicht. Angesichts der politischen Feindseligkeiten zwischen den wichtigsten Handelsmächten könnte das ein entscheidender Malus sein.Das gilt nicht für den Mexikaner Jesús Seade Kuri. Der promovierte Ökonom ist ein langjähriger Kenner der WTO und war Mitte der 1990er Jahre an der Modernisierung des WTO-Vorläufers GATT beteiligt. Séade Kuri arbeitete für Weltbank und IWF. In den Gesprächen mit den USA und Kanada zum gerade in Kraft getretenen nordamerikanischen Freihandelsabkommen USMCA war er Mexikos Chefunterhändler.”Es gibt mehrere starke Kandidaten”, sagt Olaf Wientzek, Büroleiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Genf. Ihn überraschte, dass die Europäische Union keinen Kandidaten ins Rennen schickt; EU-Handelskommissar Phil Hogan hatte Interesse bekundet, dann aber abgewunken. Stunden vor Ablauf der Bewerbungsfrist nominierte nun die britische Regierung Ex-Handelsminister Liam Fox. Der EU dürfte er als Brexit-Befürworter jedoch kaum vermittelbar sein. Südkoreas Handelsministerin Yoo Myung-hee dürfte angesichts von Handelskonflikten mit Japan auf Vorbehalte in Tokio stoßen. Als chancenlos gelten Moldawiens Ex-Außenminister Tudor Ulianovschi und Mohammad Al-Tuwaijri, bis vor kurzem Wirtschaftsminister Saudi-Arabiens.Die Kandidaten haben zwei Monate Zeit, sich den WTO-Diplomaten in Genf und in den Hauptstädten vorzustellen. Anschließend wird der Allgemeine Rat der WTO in mühsamer Pendeldiplomatie einen Namen nach dem anderen streichen. Denkbar ist, dass ein Durchbruch bis nach der US-Präsidentschaftswahl Anfang November auf sich warten lassen wird. Als Interimslösung könnte der Deutsche Karl Brauner ein Führungsvakuum verhindern: Er ist einer der vier Stellvertreter Azevedos.